Ich bin da noch mal hin
hättest mich vorher da rausgezogen.«
Aber selbst ohne Hans’ Anwesenheit hätte die Sache anders ausgehen können. Mein Niedergang wäre vermeidlich gewesen, wenn ich nicht solch einen pubertären Eröffnungszug geliefert hätte. Das muss ich mir merken.
»Na, wie auch immer, ich muss jetzt Schluss machen. Gleich spielt ihr gegen Argentinien. Schaust du es dir an?«
»Soll das ein Witz sein? Natürlich schaue ich zu. Ganz Deutschland schaut zu. Ich muss auch auflegen.«
»Ihr werdet sie zermalmen!«
»Ja, werden wir! Tschüssi, Anne!«
»Tschüssi, Hans! Toi toi toi für Deutschland!«
Das Spiel, das sich in der Bar Palco an der Calle Ancha Hunderte reizbarer Einheimischer, Pilger und Touristen ansehen, bringt León, den Camino und mich für zwei Stunden zum Stillstand. Nach dem Abpfiff schiebe ich vor dem Abendessen noch einen Messebesuch ein. Vor lauter Sorge, möglicherweise erneut ein Verbrechen gegen die katholische Kirche zu begehen, überlegeich mir gründlich, ob ich wirklich hingehen soll. Doch in der romanischen Basílica San Isidoro gibt es den silbernen Sarg, in dem die 1063 hierher überführten sterblichen Überreste des heiligen Isidoro, Bischof von Sevilla, liegen. Dass er die Fähigkeit besaß, Wunder zu vollbringen, machte sein Grab zu einem Muss für die Pilger im Mittelalter. Also muss auch ich da hin. Ein sehr altes Gemeindemitglied erhebt sich mühevoll aus der Bank, um mir zu erklären, dass ich den retablo nicht fotografieren darf.
»Entschuldigung«, erwidere ich. »Das Verbot war mir nicht bekannt.«
Am Ende der Messe führt der Priester die Pilger zu den Stufen vor San Isidoros Silbersarg. Ich bin nicht mehr die Gleiche wie vor ein paar Stunden in der Kathedrale und geneigt zu glauben, dass in León heute eine Art Wunder geschehen ist. Er bittet Jesus, auf dem Weg nach Compostela unser Gefährte und Führer, unsere Zuflucht, unser Schatten, unser Licht und unser Trost zu sein. Wir beten mit ihm darum, wohlbehalten dort einzutreffen und anschließend »reich an Gnade … gesund und voller wertvoller Tugenden nach Hause zu kommen.«
»Gehet hin in Christi, denn er ist der Weg«, wird uns gesagt, »und betet in Compostela für uns.«
Der Organist spielt eine einfache Melodie und stimmt ein Lied an, das speziell für die zwanzig nun in den VIP-Status erhobenen Pilger bestimmt ist. Schüchtern stimmen wir in den Refrain ein, nachdem wir die seltsame Weise in uns aufgenommen haben:
»Llévale, romerico, Llévale a Santiago.
Llévale, romerico, Llévale un abrazo.
¡Llévale, romerico, a Santiago un abrazo!«
(Bring, Pilger, bring dem heiligen Jakob.
Bring, Pilger, ihm eine Umarmung.
Bring, Pilger, dem heiligen Jakob eine Umarmung!)
Dagegen kann nicht einmal ich etwas sagen.
Ich folge dem aufgeschlossenen Priester in seine Sakristei und frage ihn nach seiner Meinung über den Sinn des Camino.Seine Antwort ist so überzeugend, dass ich am liebsten sofort in die katholische Kirche eintreten würde.
»Die Pilger gehen als Kulturtouristen nach Santiago, aus religiösen Gründen, um Buße zu tun oder in Familienangelegenheiten. Im Moment ist es eine regelrechte Mode, das will jeder mitgemacht haben.«
(Er fügt nicht hinzu »bei Deutschen«. Hat er es als Einziger nicht gemerkt?)
»Aber der wichtigste Grund, nach Santiago zu pilgern«, fährt er fort, »ist die Selbstreflexion. Sie müssen sich selbst fragen, warum Sie den Camino machen. Welche Frage stellen Sie sich selbst? Sie müssen sich Ihre eigene Frage beantworten. Einige Antworten finden sich in der Natur. Wir sehen, dass Gott sogar für die Insekten und andere Tiere sorgt. Auf dem Camino lernt man, dass das auch für uns Menschen gilt. Sie haben viele materielle Güter zurückgelassen, die Sie hier nicht brauchen. Diese Sachen brauchen wir nirgends! Wenn Sie wieder daheim sind, sehen Sie sich all das an, was Sie besitzen und dessen Sklave Sie sind. Das heißt aber natürlich nicht, dass Sie nicht mehr arbeiten gehen sollen!«
Er spricht so schnell, dass ich ihn nicht unterbrechen kann, wie ich es gewöhnlich tue. Ich muss mich auf jedes Wort konzentrieren, um Missverständnisse zu vermeiden. Schließlich äußert er einen Gedanken, der mir so viel bedeutet, dass ich ganz sicher bin, ihn tatsächlich verstanden zu haben.
»Ein weiteres sehr wichtiges Motiv«, sagt er, »ist, dass Sie auf dem Camino viel Gastfreundschaft begegnen. Denken Sie daran, wie Ihnen das geholfen hat und wie viele Menschen Ihnen geholfen haben.
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