Ich bin da noch mal hin
sich etwas kleiner, um mir in die Augen zu starren.
»Nein.«
»Machen Sie keine Schwierigkeiten! Raus!«
»Wissen Sie«, sage ich standhaft, »ich bin eine Pilgerin und kann diese Kathedrale nur heute besuchen. Wir stören die Hochzeit doch nicht, warum sollten wir also die Kapellen nicht besichtigen?«
»Das können Sie genauso gut später noch machen«, beendet er abrupt die Diskussion, um anschließend einer kleinen Gruppe latent aufsässiger italienischer Touristen Anweisungen zu erteilen.
Ich habe richtig weiche Knie bekommen. Langsam gehe ich zu einer Bank und höre mir das wunderschöne »Ave Maria« an, das eine für die Hochzeit engagierte Sopranistin singt. Sie steht allein mitten im Chorgestühl, und als ich mich nach ihr umdrehe, entdecke ich eine Touristin, die eines der berühmten Buntglasfenster fotografiert. Ihrem Blick folgend hebe ich meine Kamera, nur um den Aufseher zu einem weiteren Ausbruch zu provozieren. Wie aus dem Nichts erscheint er, um die Fehde fortzuführen.
»Genug! Genug! Ich habe Ihnen gesagt, raus hier! Raus, und zwar sofort!«
Ich bleibe sitzen, verschränke die Arme, stütze meine Stirn in eine Hand und schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, steht er immer noch vor mir. Die Leute in den Nebenbänken starren uns schweigend an. Ich bin bloß froh, dass die Sopranistin das »Ave Maria« beendet hat, wir also den schönsten Tag im Leben des reichen Paares nicht verderben.
»Was habe ich jetzt verbrochen?«
»Können Sie nicht lesen? Fotografieren verboten! Raus!«
Die Touristin, deren Beispiel ich unschuldig gefolgt bin, sieht bestürzt aus und fürchtet offenbar, sein nächstes Angriffsziel zu sein. Fast alle der mehreren Hundert Hochzeitsgäste filmen die Zeremonie und nehmen dabei natürlich auch den Kathedralenraum mit auf.
»Señor«, sage ich mit zitternder Stimme. »Es tut mir sehr leid. Bitte verzeihen Sie. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Bitte schicken Sie mich nicht fort. Ich wusste nicht, dass Fotografieren verboten ist.«
Ich stehe auf und strecke ihm zur Versöhnung die Hand hin. Er nimmt sie und wirkt über unseren Streit, der nun vorbei ist, genauso schockiert wie ich.
»¡Por favor!«, sagt er. »Wenn Sie nach Compostela gehen, beten Sie für mich zu Santiago.«
»¡Sì! Das mache ich. Danke.«
Aber bevor ich mir verdient habe, das zu tun, liegt noch eine ziemliche Strecke vor mir. Werden dreihundertundzwölf Kilometer ausreichen, um mir die Dämonen auszutreiben?
Ich schleiche mich davon, von der Hochzeit, den Pilgern und den Touristen, erklimme die wenigen Stufen zum Eingang des Kathedralenmuseums und breche in Tränen aus. Zwar tue ich, als würde ich die Postkarten betrachten, doch ich bin immer noch so verstört von dem sinnlosen Zwist, dass ich vor der Portada del Dado, einer riesigen, mit biblischen Heiligen und Engeln geschmückten Tür niederknie. Die Blicke anderer Museumsbesucher prallen von mir ab wie Hagelkörner, denn ich konzentriere mich ganz auf die lebensgroßen Steinfiguren. Und da, direkt vor mir, ist das Bild, das ich gesucht habe – eines, das das Grundgefühl des Camino beispielhaft darstellt. Es existiert also doch. Nicht der heilige Jakob ist es, dessen eleganter blauer Mantel sich in Knöchelhöhe leicht öffnet und das glitzernde rote Futter sehen lässt. Auch nicht Jesus, der von oberhalb der Tür eine verzeihende Geste macht. Es ist der Erzengel Gabriel, der Maria verkündet, dass sie Gottes Sohn gebärenwird. Der Engel weist das besondere Merkmal auf, das ich zu finden gehofft habe – ein Lächeln. Wie von einem Engel nicht anders zu erwarten, ist es ein engelsgleiches Lächeln. Das muss es auch sein, um das überwältigende Gefühl zu vermitteln, das mit der frohen Botschaft der Verkündigung verbunden ist. Es ist das gleiche Gefühl, das mit dem Camino einhergeht. Ich muss los und es wieder zum Leben erwecken.
»Oh, Anne, warum tust du das?«, fragt Hans kritisch, als ich ihn von meinem hostal aus anrufe, um ihm den »Krach in der Kathedrale« zu schildern.
»Ich weiß es nicht. Ich konnte einfach nicht anders. Und es war nicht allein meine Schuld«, rechtfertige ich mich.
Und dann lacht er.
»Was gibt es da zu lachen?«, frage ich. »Es war schrecklich. Das schlimmste Erlebnis seit dem Fahrraddebakel.«
»Was es zu lachen gibt? Ich kann es mir einfach vorstellen …«, krächzt er und muss noch mehr lachen.
»Na, also, wenn du dabei gewesen wärst, wäre es gar nicht so weit gekommen, oder? Du
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