Ich bin da noch mal hin
Warum sollten Sie, nachdem Sie erlebt haben, wie wichtig diese Hilfe für Sie war, nach Hause kommen und nicht Ihrerseits anderen helfen?«
Jetzt fordert sein fragender Blick eine Unterbrechung.
»Ich weiß genau, was Sie meinen! Dass ich hier bin, habe ich nur den hospitaleros in Trinidad und Logroño zu verdanken. Dank ihrer Hilfe konnte ich weiterziehen.«
»Sie müssen Ihr Ego loswerden!«, befiehlt er. »¡Buen Camino!«
»¡Buen Camino!«, antworte ich und ergreife seine ausgestreckte Rechte mit beiden Händen.
Der Mann plant wohl kaum, morgen nach Santiago zu wandern, aber spielt das eine Rolle? Ich habe gemeint, sein ganzes Leben möge ein ¡Buen Camino! sein.
Ach, das hätte ich fast vergessen … heute hat Deutschland den zweitgrößten Freudentaumel seit dem Fall der Mauer 1989 erlebt.
» WARUM ?«, lautete eine patriotische SMS von Hans-Peter Kerkeling, als ich ihn um eine Erklärung bat. »So ist eben Fußball … darum … Wir können stolz sein auf unser multikulturelles deutsches Team … Türkische Wurzeln, spanische, persische, polnische … das ist Deutschland oder das will es heute jedenfalls sein.«
War doch bloß eine Frage.
Aber warum feiern die Menschen das in den Straßen Berlins? Weil Deutschland Argentinien vier zu null zermalmt hat, darum. Glauben Sie mir, ich wusste es.
Donnerstag, 8. Juli 2010
Ausblick auf Ruitelán
Vor zehn Jahren habe ich den Punkt, der die Mitte der Strecke zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und Santiago de Compostela markiert, am 28. Juni passiert. Er liegt nur einen Kilometer hinter Calzadilla de la Cueza, wo ich 2001 von einem liebeskranken alten Gockel belästigt wurde. 2010 komme ich einen Tag nach Englands Niederlage gegen Deutschland hier vorbei. Dass ich von derlei persönlichen Angelegenheiten abgelenkt war, erklärt vielleicht, warum ich die Stelle zweimal im Leben passiert habe, ohne sie zu registrieren. Sahagún und León sind für mich viel markantere Halbzeitpunkte. Wie hätte ich 2001 weitergehen können, ohne den Physiotherapeuten David aufzusuchen? Würde ich ohne den Rat von Schwester María Anunciación, auf mich selbst zu hören, meinen gegenwärtigen Fokus verlieren? Wäre Hans nach Hause gefahren, wenn wir uns 2001 nicht in León wiedergetroffen hätten? »Welche Frage stellen Sie sich selbst?«, liegt dieses Jahr in der Luft, seit ich vorigen Samstag mit dem Priester in León gesprochen habe. Schlüsselmomentewie diese tragen dazu bei, dass eine Pilgerreise schließlich von Erfolg gekrönt wird. Sie sind grundlegend für unsere physische Ankunft in Santiago und unverzichtbar für unsere spirituelle Suche.
Allerdings sind die letzten fünf Etappen seit León der anstrengendste und verstörendste Teil meiner Pilgerreise seit dem »Fahrraddebakel« gewesen. Die körperlichen Schmerzen hatte ich größtenteils selbst verschuldet, da ich mich wie eine Närrin an drei Tagen über die Dreißig-Kilometer-Marke getrieben hatte, um mich wie der schiffbrüchige Robinson Crusoe mit letzter Kraft in die Herberge des Zielorts zu retten. Der Marsch am Dienstag nach Molinaseca und der heutige nach Ruitelán sind die einzigen gewesen, bei denen ich vernünftig blieb und mein persönliches Kilometerlimit einhielt. Und beides verdanke ich Bob … Doch der Reihe nach …
Sonntag, 4. Juli 2010
Ich wandere 36,4 Kilometer von León nach Hospital de Órbigo
Bei einem Kaffee an der Plaza San Isidoro um 8 Uhr 15 blickte ich hinauf zur Basílica und dachte über mein Gespräch mit dem Priester am Abend zuvor nach. »Welche Frage stellen Sie sich selbst?«, hatte er mich gefragt, um mir anschließend zu gebieten: »Sie müssen Ihr Ego loswerden!« Damit der diesjährige Camino eine echte Pilgerreise wurde, das wusste ich, musste ich diese Anweisungen ernst nehmen. Ich hatte keinen Grund gehabt, mich dem Aufseher in der Kathedrale von León zu widersetzen. Er hatte mich nur gebeten, hinter einer Seilsperre zu stehen, nicht, ohne Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen. Wenn es mir auf der zweiten Hälfte des Weges nicht gelang, mein Ego zurechtzustutzen, konnte ich genauso gut gleich nach Hause fahren.
Heute bin ich allein gegangen, denn Christian und Dario hatten León noch am Abend verlassen, um ins zwanzig Kilometer entfernte Villar de Mazarife zu wandern. Nachdem wir uns den Viertelfinal-Sieg Spaniens über Paraguay in einer winzigen Barin der Nähe ihres Quartiers angesehen hatten, waren sie auf der dunklen Straße verschwunden, während ich in mein
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