Ich bin dann mal offline
innerhalb eines Spektrums, das von belanglos (»Neue Angebote Ihrer bevorzugten eBayVerkäufer!«) über lästig (»Dürfen wir Sie mit unseren neuen Tarifangeboten vertraut machen?«) bis hochgradig ärgerlich (»Re: AW: Re: AW: Re: AW: RE: AW: Ihre Mahnung vom 13. Juni 2009«).
Nein, darauf kann ich gut verzichten. Und sowohl das Nobelpreiskomitee als auch die Lottögesellschaften werden sich schon schriftlich melden beziehungsweise persönlich jemanden vorbei schicken, wenn es so weit sein sollte, beruhige ich mich. Dennoch ertappe ich mich ungefähr viertelstündlich dabei, wie ich mein iPhone aus der Tasche holen will, um nach neuen Mails zu forschen. Und mehr als einmal verspüre ich sogar das, was ich in Ermangelung eines wissenschaftlichen Terminus als »Phantomvibrieren« bezeichnen muss. Nämlich ein brummendes Gefühl an genau der Stelle meines Beines, an der ich sonst mein Mobiltelefon trage -eben so, als würde der Vibrationsalarm lossurren. Nur dass ich das Telefon gar nicht dabei habe. Selbst meine Muskeln und Nerven spielen mir schon Streiche. Das geht ja gut los.
Tag 2 Einfach unerreicht
Wie schon gestern merke ich am zweiten Morgen meines Selbstversuchs, wie sich starke Kopfschmerzen breitmachen. Ich bin nicht sicher, ob es sich dabei tatsächlich um richtige Entzugserscheinungen handelt -oder nur um die verdienten Nachwirkungen des Whiskys, den ich gestern Abend vor dem Einschlafen getrunken habe. Die Mitarbeiter der Mainzer Ambulanz für Computerspiel-und In-ternetsucht, die ich im Lauf meines Selbstversuchs noch besuchen werde, wollen das mit dem Whiskey nicht ganz ausschließen. Sie werden mir aber auch erklären, dass es durchaus körperliche Entzugserscheinungen geben kann, wenn Internet-Abhängige nicht ihre tägliche Dosis bekommen. Starke Nervosität, Schlafstörungen und Unruhe seien zwar häufiger, Übelkeit oder Kopfschmerzen träten aber auch immer mal wieder auf. Ich kann mir also aussuchen, ob ich ein Internet-oder ein Alkoholproblem habe -na besten Dank. Ich gehe zur Bank und fülle zum ersten Mal seit mindestens fünf Jahren einen Überweisungsschein aus. Mit einer Hand, die das Schreiben mit dem Stift in den letzten Jahren immer mehr verlernt hat. Mist, schon wieder verschrieben. Ich zerknülle den orangefarbenen Überweisungs träger -das ist online wirklich deutlich einfacher. In der Schalterhalle stehend fühle ich mich wie ein Zwölf jähriger, der zum ersten Mal mit seinem Jeanssparbuch experimentiert.
»Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie viel Geld ich auf dem Konto habe?«, frage ich eine Kundenberaterin.
»Warum gehen Sie nicht da vom zu einern unserer Info-. terminals?«, fragt sie mich und weist auf eines der Geräte, die nicht nur Geld ausspucken, sondern auch Kontostand, Umsätze und viele andere Informationen anzeigen können, von denen ich annehme, dass sie für mich tabu sind.
»Ich darf zurzeit nicht ins Internet... es ist... etwas kompliziert ... «, stammle ich. Die Frau sieht mich erst fragend an, dann mitleidig. Wortlos nimmt sie meine Bankkarte, tippt ein paar Zahlen in ihren Computer und dreht ihren Monitor
leicht zu mir herüber. Wahrend sie sich unauffällig umsieht, so als suche sie nach der »versteckten Kamera«. »Bitteschön. Lesen dürfen Sie ja hoffentlich noch ... «
Fluch und Segen der Unerreichbarkeit
Um mich für den weiteren Tag sinnvoll zu beschäftigen, gehe ich einer Recherchespur nach, die ich bereits aufgenommen habe, als ich mich noch im Internet herumtrieb -einern Ort, an dem man bekanntlich auf die verrücktesten Geschichten stößt. Ich möchte mit jemandem sprechen, der die fatalen Auswirkungen von modemen Kommunikationstechniken am eigenen Leib erfahren hat -genauer gesagt erfahren hat, welche Katastrophen passieren können, wenn wir nicht per Mail oder Telefon erreichbar sind.
JD ist ein kanadischer Collegestudent, der gerade erst in Ontario aufgestanden ist, als ich ihn anrufe, um mir seine Geschichte erzählen zu lassen. »Durch einen Zufall bekam ich vor zwei Jahren die Gelegenheit, zwei Wochen auf eine einsame Hütte in den Rocky Mountains zum Angeln zu fahren. Ich erzählte meiner damaligen Freundin mehrmals von meinem Vorhaben und verabschiedete mich auch am Abend vor meiner Abreise von ihr«, berichtet der Kanadier mir am Telefon, während er sich ne-benher einen Kaffee kocht. »Ich ließ mein Handy zuhause, da ich damals ständig pleite war und keine Lust auf die teuren Roaming-Gebühren in Kanada hatte.
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