Ich bin dann mal offline
Kajaks
Der Technik-Historiker und Internet-Philosoph George Dyson hat einen fabelhaften Vergleich dafür gefunden, wie sich die Entstehung wertvollen Wissens durch das Internet verändert hat: in dem Bau von Kajaks und Einbaumkanus zwei grundverschiedenen Dingen. Kajaks wurden früher im Nordpazifik vor allem von dem Volk der Aleuten konstruiert, die baumlose Inseln bewohnten und mühsam Treibholz und andere Kleinteile sammelten, um daraus Gerüst und Schiffsrumpf zusammenzubauen. Andere Völker, wie die Tlingit, lebten im Gegensatz dazu inmitten von Regenwald und suchten sich für ihre Boote die größten und kräftigsten Bäume aus. Diese höhlten sie so weit wie möglich aus
-und nutzten die entstehenden Hohlkörper als Einbaumkanus. »Wir waren lange Zeit Kajakkonstrukteure«, schreibt Dyson, »die alle verfügbaren Informationsfragmente aufsammelten, um ein Gerüst zu bauen, das uns über Wasser hielt. Heute sind wir Kanubauer geworden, die so lange unnötige Information entfernen, bis die Form des Wissens, das darin verborgen liegt, zutage tritt.« Ein eindrucksvoller Vergleich für den Paradigmenwechsel, der gerade vonstatten geht, und in dem es nicht mehr darauf ankommt, ob man an Informationen herankommt. Sondern, wie man aus der endlosen Fülle an Information das herausfiltert, was richtig und wichtig ist -und alles andere schnell und unkompliziert verwirft. Seinen Erkenntnissen fügt Dyson hinzu: »Ich war ein hartgesottener Kajakkonstrukteur, darauf abgerichtet, jeden verfügbaren Stock aufzusammeln. Es fällt mir schwer, mir die neuen Fertigkeiten anzueignen. Aber die, die das nicht tun, sind dazu verdammt, auf Stämmen herumzupaddeln -und nicht in Kanus.«
Und ich? Ich fühle mich zumindest gegen Ende der ersten Woche meines Selbstversuchs wie ein Kanubauer, dem man den gesamten Regenwald abgeholzt und, damit seine Bäume weggenommen hat. Und der nun wieder am Strand herumlaufen und Treibholz aufsammeln muss -von dem er nicht mehr so genau weiß, wie man daraus noch mal ein Boot baut.
Tag 6 Liebe in den Zeiten der Chatrooms
Jessica kommt fürs Wochenende nach Hause und erlöst mich aus meiner überraschenden Vereinsamung. Als ich zum Bahnhof fahre, um sie abzuholen, erinnere ich mich, wie wichtig SMS-Nachrichten in der Anfangsphase unserer Beziehung waren. Vor allem in dieser heiklen und wundervoll nervenaufreibenden Phase, in der man noch nicht weiß, ob man das, was da gerade passiert, überhaupt schon Beziehung nennen kann. Wir lernten uns vor etwa drei Jahren nahezu altmodisch auf einem Segelschiff vor der Küste Schottlands kennen. Meine journalistische Mission dort endete fast eine Woche früher als ihre -ich reiste ab, sie blieb an Bord. Nicht nur, dass es durch SMS eine Möglichkeit gab, überhaupt mit der Frau zu kommunizieren, die mir nicht mehr aus dem Kopf ging, aber auf einem Segelboot in weiter Feme saß. Durch die Unverbindlichkeit dieser Kurznachrichten ergab sich auch eine gute Gelegenheit, die Tiefe unserer Romanze auszuloten, um mal im Seglerjargon zu bleiben. Lohnte es sich, den Kurs zu halten? War das Ganze etwas mit Zukunftspotential? Oder nur ein klassischer Ferienflirt? Ich erinnerte mich an eine junge Kanadierin, die ich mit 18 im Rahmen eines Schüleraustauschs kennengelernt hatte. Nach leidenschaftlichen zwei Wochen und einem anschließenden, etwas mühsamen Briefwechsel investierte ich kurzentschlossen meine kompletten Ersparnisse in ein Flugticket und machte ich mich auf den Weg in die kanadische Prärie. Wo wir nach anderthalb Tagen merkten, dass sich der Zauber einer Ferienliebe nicht immer in den dauerhaften Alltag übertragen lässt.
Danach war ich ein gebranntes Kind. Was, wenn nur ich mich Hals über Kopf verliebt hatte? Wenn Jessica eher froh war, dass unserer Zweisamkeit durch das Ende der Reise quasi ein automatischer Verfallsstempel aufgedrückt worden war? Wenn ein Anruf nach ihrer Rückkehr eher ein betretenes Schweigen ausgelöst hätte -gefolgt von einem »Ach, äh ... hmja, ich bin in nächster Zeit eigentlich sehr beschäftigt ... «? Oder ein überraschender Besuch mit einer vor der Nase zugeschlagenen Tür enden würde? Per SMS ließ sich die Vertrautheit, die auf dem Meer zwischen uns geherrscht hatte, auch ein wenig in die Entfernung hinüberretten und ich konnte vorsichtig testen, ob ein Wiedersehen auch auf dem Festland erwünscht war, ohne mich komplett zum Affen zu machen.
»Du Idiot! Ich hab mich doch genau das gleiche gefragt«, sagt Jessica,
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