Ich bin dann mal offline
Kopf wegschießen und anschließend ein Blog oder ein Twitter-Konto einrichten. Aber das ist vermutlich auch Voraussetzung, um von den technisch versierten Patienten ernstgenommen und nicht als »Noob«, als unwissender Neuling und Nichtskapierer ausgelacht zu werden. »Viele Patienten, die zu uns kommen, haben bereits einiges hinter sich«, beschreibt er die Menschen, die bei ihm Hilfe suchen. »Beziehung kaputt, Arbeitsplatz weg, Selbstbewusstsein am Boden.« In fünf Einzelgesprächen versuchen die Psychologen dann zunächst herauszufinden, ob sich hinter der krankhaften Internetnutzung noch andere Begleiterkrankungen verbergen, beispielsweise Angststörungen, Depressionen oder soziale Phobien. Gleichzeitig wird mit dem Patienten ein Therapieplan ausgearbeitet, dabei ist nicht immer radikaler Entzug Voraussetzung.
»Wenn man einen völligen Stopp von heute auf morgen verlangt, schreckt das viele ab, und sie kommen gar nicht«, erklärt Müller. »Aber wenn sich jemand vornimmt, >flur ein bissehen reduzieren< zu wollen, ist eine erfolgreiche Therapie natürlich auch schwierig.« Meist, so Müllers Erfahrung, entwickele sich im Lauf der 20 wöchentlichen Gruppensitzungen dann von selbst der Wunsch nach totaler Abstinenz.
Wir sitzen in einer kleinen Bibliothek, einem hellen, freundlichen Raum mit großem Tisch, in dem auch die Gruppensitzungen stattfinden. In diesen jeweils 90-minütigen Runden sprechen die meist sechs bis acht Patienten über ihr Verhalten. Welche persönlichen Faktoren haben sie anfällig gemacht? Wie geht man mit einem Rückfall um? Was ändert sich durch den Abschied von dem zwanghaften Verhalten? Wie kompensiert man Stress im Alltag? Wie überwindet man soziale Unsicherheit oder Ängste? All das sind Fragen, die in der Verhaltenstherapie erörtert werden, zu den Gruppengesprächen kommen noch einmal rund zehn Einzelsitzungen hinzu -bei Bedarf auch mehr. Neben den pubertierenden Dauerspielern, die oft genug von ihren verzweifelten Eltern in die Ambulanz gebracht werden, hat Müller auch eine Zunahme bei den Problemen bemerkt, die Menschen mit Online-Communitys wie StudiVZ, Facebook oder www.wer-kennt-wen.de haben. »Hier ist bei den Patienten das Geschlechterverhältnis ausgeglichener, und sie sind auch nicht mehr ganz so jung wie die Computerspiele!«, sagt er. Ein häufiger Antrieb für die Menschen, die sich in den sozialen Netzwerken »verlieren«, sei die ständige Verfügbarkeit der Kommunikationspartner, die unmittelbare Belohnung für jede Interaktion und das Gefühl der Bestätigung, das mit jeder Freundschaftseinladung, jedem »Stupser«
oder getippten »LOL«-Lacher 25 einhergeht. »Es entsteht ein starkes Gefühl der Beliebtheit, das oft einen Ausgleich zu den Selbstzweifeln im echten Leben herstellt und zu dem Gefühl, dort ständig etwas falsch zu machen oder anders zu sein. Gleichzeitig verzerrt sich schnell die Wahrnehmung, was die Tiefe und Intensität dieser Kontakte betrifft -da wird viel mehr an Freundschaft und Verständnis hineininterpretiert, als tatsächlich da ist.«
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie es mir auch jedes Mal Freude bereitet hat, wenn ich vor meinem Selbstversuch etwas auf Facebook zum Besten gab und jemand den »gefällt mir«-Knopf drückte. Und.dann noch jemand. Oder was für ein Hochgefühl es war, als ein Artikel von mir über 250 Mal auf Twitter weiterempfohlen wurde. Ist das nur ganz gewöhnliche, alberne Eitelkeit? Oder schon der Beginn einer Störung? Von den Hochgefühlen, die ich in meinen besten Jahren beim Betrachten unbekleideter Frauen auf einschlägigen Internetseiten erfahren habe, traue ich mich hier in der seriösen Bibliotheksatmosphäre gar nicht anzufangen. Ebenso wenig von den Momenten, in denen ich meine schlechte Laune mit einem virtuellen Flammenwerfer an tumben Außerirdischen in einem Playstation-Spiel ausgelassen oder als Kleinkrimineller virtuelle Autos geklaut habe, nur um damit Polizisten zu überfahren und im Autoradio einen von Karl Lagerfeld musikalisch zusammengestellten Sender zu hören. Ich frage also vorsichtig und rein hypothetisch, ob jemand aus meinem Freundeskreis, der so etwas -theoretisch -täte, sich theoretisch Sorgen machen müsste -unter Umständen. Nicht, dass ich jemals ...
»Es gibt eine Reihe von klassischen Kriterien«, beruhigt mich Kai Müller. »Wenn Sie mehrere dieser Kriterien über ein Jahr hinweg erfüllen, dann kann man von der Gefahr einer Störung sprechen.«
Diese Kriterien seien
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