Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
Durch den waagerecht ausgefahrenen Stab sind die viel zu schnellen Autofahrer gezwungen, durch abruptes Gegenlenken einem Aufprall zu entgehen, und das macht sie keineswegs friedfertiger und mich nicht wirklich sicherer. Als ich ein I-Männchen war, hat man mir erfolgreich beigebracht, niemals auf so einer Straße herumzulaufen. Ich habe mich eigentlich auch immer daran gehalten. Warum heute nicht? Über das Pilgern darf ich doch die gute Vernunft nicht vergessen. Diese Unternehmung ist, auch wenn sie erlaubt ist, eindeutig gegen jede Räson. Also versuche ich, nachdem ich die andere Fahrbahnseite durch einen gewagten Pilgerstabhochsprung erreicht habe, zu trampen. Ein chancenloses Unterfangen. Die Spanier nehmen Pilger nun mal nicht mit. Sie tun es einfach nicht! Selbst wenn mich jemand mitnehmen wollte, es gäbe überhaupt keine Haltebuchten dafür. Und auf der unübersichtlichen Straße zu stoppen wäre wiederum für jeden Autofahrer eine lebensgefährliche Entscheidung.
Über mein Handy versuche ich, massiv gegen das rauschende Wasser und den Verkehr anbrüllend, mich mit der Taxizentrale in Villafranca verbinden zu lassen – und lerne wieder einmal dazu, denn diese, so erfahre ich, existiert gar nicht. Sieben weitere Kilometer muss ich stinksauer und fluchend durch diese harte, glühende Pilgerhölle hetzen und schnaufen.
Und in den sich häufenden Kurven lege ich nunmehr konstant lebensrettende Zweihundert-Meter-Sprints mit ausgestrecktem Pilgerstab hin. Ein heroisches Bild! Das könnte olympische Disziplin werden, denn alle Muskeln werden bei diesem für Zuschauer äußerst attraktiven Sport beansprucht! Kurz vor dem vereinbarten Treffpunkt mit Anne überholt mich dann auch noch Erics belgischer Ü-Wagen. Mist, die hätten mich als Einzige sicher mitgenommen!
Erschöpft, müde, stinkwütend und hinkend erreiche ich ohne Chance auf einen der Medaillenränge die erste Zwischenstation Trabadelo. Wo bin ich denn hier gelandet? Diese Ansiedlung besteht aus einer gigantischen Tankstelle mit weit über zwanzig Zapfsäulen und einem holzverarbeitenden mittelständischen Betrieb, in dem mindestens fünf Kreissägen gleichzeitig singen. In diesem Pilgerinferno ist offenes Feuer sinnigerweise überall verboten!
Hinter dem Brummifahrer-Tankparadies schlage ich den ruhigen Naturpfad ein, auf dem Anne den Berg herunter- und mir entgegengepilgert kommen müsste. Diese Ruhe ist fantastisch. Keine Motoren, kein Gehupe und kein rauschendes Wasser! Poor Anne, sie weiß noch nicht, dass wir auf der Landstraße ohne Ausweichmöglichkeit weiterwandern müssen. Ganz schonend und sehr einfühlsam werde ich es ihr beibringen. So bin ich eben.
Vor einer kleinen Bodega im Wäldchen platziere ich mich als einziger Gast direkt an der sandigen Weggabelung. Der leicht konfuse grauhaarige Besitzer in seiner dünnen von Strohfäden übersäten Strickjacke fragt gleich dreimal hintereinander nach meiner immer identisch lautenden Bestellung. Der Mann scheint vergessen zu wollen, aber nett hat er es sich gemacht, denn er hat das mausgraue Häuschen mit Dutzenden von Plastikzwergen, Märchenfiguren, Fabelwesen und kitschigen Kunsthirschen überbordend geschmückt. Die Sonne hat den Pretiosen über die Jahre gehörig zugesetzt. Alles ist ausgeblichen und mittlerweile ist eigentlich jede der geschmacklosen, aber witzigen Skulpturen blasszitronig oder pastellorange geworden. Ähnlich blass wie die Erinnerung meines Barkeepers. Was für ein absurder unwirklicher Platz.
Oder halluziniere ich doch bereits?
Keine fünf Minuten später sehe ich Anne in einiger Entfernung entschlossen auf mich zupilgern. An ihrem viel zu festen Schritt erkenne ich, dass sie ebenfalls stinksauer ist. Als sie ihren blauen Baumwollrucksack abgeworfen hat, macht sie sich durch einen Befreiungsschrei erst mal Luft, um dann vollends zu explodieren.
Das sei mit Abstand die »most fucking« Wanderung auf dem ganzen Camino gewesen, denn, so erzählt sie rot vor Wut weiter, sie sei ohne Vorwarnung in eine Bergsprengung hineingeraten und habe sich zu Tode erschrocken und musste danach an einer aufgescheuchten Herde junger Bullen vorbeimarschieren, die sich einen Spaß daraus gemacht hätten, sie aufs Blut zu ärgern, und eine dieser männlichen Kühe sei ihr im Schweinsgalopp hinterhergejagt und sie sei nur mit Mühe entkommen!
Meinen dringlichen Lachimpuls kann ich nicht unterdrücken und auch Anne hat schon wieder Lust auf eine befreiende Kicherattacke.
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