Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
Sheelagh, die immer so früh losläuft, steht plötzlich vollkommen ratlos an einer Weggabelung.
»Oh, Hans. I am lost!«, ruft sie mir mit nach oben gestreckten Armen hilflos entgegen. Sie hat sich hoffnungslos verlaufen und irrt orientierungslos auf der Suche nach Wegweisern durch diese mittlerweile bizarre Gegend. In der Tat muss man schon sehr genau auf die verblassten gelben Pfeile an den Bäumen achten, um durch diesen labyrinthartigen niedrigen Wald zu finden, aber wie sie sich so gründlich verlaufen konnte, ist mir doch unbegreiflich.
Sheelagh ist sehr glücklich, als sie mich sieht, und fällt mir, den Tränen nahe, um den Hals. Sie ist richtig aufgelöst und kann sich ihre Orientierungslosigkeit selbst gar nicht erklären. Dieses dunkle Wäldchen ist nicht besonders einladend und ein bisschen unheimlich. Als ich sie frage, ob sie denn Anne nicht getroffen habe, verneint sie. Sheelaghs Bedarf am Alleinwandern ist für heute definitiv gedeckt und so hakt sie sich fest bei mir unter und wir laufen eine Weile gemeinsam weiter.
Von meiner Begegnung mit der komischen Holländerin erzähle ich Sheelagh lieber erst beim geselligen Abendessen und nicht hier in dieser Hänsel-und-Gretel-Dekoration. Langsam findet meine Freundin zurück zu ihrer alten Form und läuft nicht länger an meinem Arm, sondern wieder alleine und ein paar Schritte vor mir. Die Neuseeländerin liebt nun mal die Unabhängigkeit. Während wir so laufen, höre ich in der Ferne irgendwo im Wald deutlich vernehmbar ein Martinshorn und sage zu Sheelagh: »Hör mal! Da fährt ein Ambulanzwagen.«
Sheelagh bleibt stehen, horcht, hört aber im Gegensatz zu mir rein gar nichts. Jetzt fange ich auch schon an wie die irre Rita! Aber ich bin mir ganz sicher, ein Martinshorn wahrgenommen zu haben. Wortlos marschieren wir daraufhin weiter und durchqueren eine noch düsterere Gegend, über der sich sogar der bisher klare Himmel auf einmal zuzieht. Erneut waten wir durch ein steiniges, noch feuchtes Flussbett.
Was dann folgt, geht so rasend schnell, dass ich es kaum richtig sehe. Plötzlich stürzt Sheelagh auf den matschigen Grund und es tut einen dumpfen Schlag. Oh Gott, hoffentlich hat sie sich nichts gebrochen! Mit dem Kopf zuerst ist sie auf einen großen Findling geprallt und nun liegt sie mit dem Gesicht im Matsch. Sie ist von oben bis unten mit Schlamm verdreckt. Ich bin einen Augenblick wie versteinert, beuge mich dann vorsichtig über sie: »Sheelagh, was ist? Bist du verletzt?« Sie steht unter Schock und schüttelt nach quälenden Sekunden nur ganz vorsichtig den Kopf. Ausgerechnet Sheelagh muss das passieren, die immer so sorgfältig auf andere und sich achtet! Wie ferngesteuert versucht sie aufzustehen und lehnt meine Unterstützung durch hilflose Gesten ab. Durch den schweren Rucksack gehandicapt, kommt sie nicht auf die Beine, deshalb zerre ich sie mit einem Ruck entschlossen in die Senkrechte.
Erst jetzt erkenne ich das Ausmaß ihrer Blessuren. Ihre Stirn ist unterhalb des Haaransatzes aufgeschlagen, genauso wie der gesamte Nasenrücken. Sie blutet aus den Platzwunden. Ihre Knie und die Unterarme haben auch gehörig etwas abbekommen und bluten stark aus den verunreinigten Verletzungen. Mit einem Mal wird Sheelagh kreidebleich und droht wieder zu stürzen. Behutsam setze ich sie auf einen Stein am Weg und nehme sie in den Arm.
Er muss aus dem Nichts gekommen sein, jedenfalls steht plötzlich ein Jeep direkt vor uns und hupt so, als befänden wir uns auf der N6 nach Vega de Valcarce. Der Mann im Wagen kann nicht an uns vorbeifahren und wird schlagartig ungeduldig. Er hupt penetrant weiter. Er will, dass Sheelagh aufsteht, damit er schnell durch den Matsch in die entgegengesetzte Richtung fahren kann.
Was ihm einfiele, schnauze ich den abwesend wirkenden Mann an, er sehe doch wohl an den Verletzungen, dass die Frau schwer gestürzt sei. Alles das interessiert ihn überhaupt nicht. Ihn um Hilfe zu bitten kommt mir im Eifer des Gefechtes gar nicht in den Sinn, zumal er offensichtlich woanders hinwill. Das ist unterlassene Hilfeleistung! Er erwidert keinen Ton und hupt penetrant weiter. Schließlich hebe ich Sheelagh auf, um dem nervigen Mitmenschen die Durchfahrt zu ermöglichen. Der Typ gibt Gas und durch die gewaltig rotierenden Räder des Jeeps bekommen wir nochmal eine gehörige Portion Schlamm ab. Wir setzen uns ins Gebüsch unter einen Baum, wo ich dann notdürftig Sheelaghs Wunden verarzte, indem ich sie vorsichtig mit
Weitere Kostenlose Bücher