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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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auch nicht mehr auf Pfeile oder Muschelwegweiser geachtet. Und als ich meinen Kopf wieder einschalte, bin ich irgendwann einfach irgendwo. Es ist zwar herrlich dort, aber eben falsch. Später stellt sich allerdings doch glatt heraus, dass ich durch meinen Irrweg nicht etwa mehr Kilometer, sondern mindestens zwei Kilometer weniger gelaufen bin. Ein Bauer schickt mich dann durch ein mannshohes Kornfeld wieder auf den richtigen Pfad. Witzig! Ich achte nicht mehr auf den Weg, verirre mich und nehme dennoch eine Abkürzung. Danach hänge ich noch einmal zwanzig, mehr oder weniger gedankenlose Kilometer dran und bin heute bei weitem nicht so erschöpft wie sonst, was allerdings auch an den deutschen Temperaturverhältnissen liegt.
    Als ich mich Astorga nähere, begrüßt mich schon von weitem ein riesiger heiserer Hund. Ein verwahrloster wunderschöner Bernhardinermischling sitzt traurig hinter einem Gittertor und soll auf ein verlassenes Ferienhaus Acht geben. Das menschenleere ungepflegte Haus ist vergittert und verrammelt. Im Pool ist kein Wasser und weit und breit gibt es keinen Unterstand für den Hund. Fressen scheint er auch keines zu bekommen. Der Hund hat nicht mal mehr die Kraft zu bellen, um mich zu verjagen, als ich mich dem Tor nähere. Er versucht verzweifelt, wieder und wieder mit der blutigen Pfote das Tor zu öffnen. Ein trauriger Anblick, der mir wirklich ans Herz geht. Durch das Gitter streichele ich den Hund dann und rede zwanzig Minuten mit ihm. Danach legt er sich wieder auf den Rasen, schnauft einmal kräftig durch und gestattet mir weiterzulaufen; meinem Ziel entgegen.
    Insgesamt muss ich heute an die vierunddreißig Kilometer gelaufen sein. Am Abend bei meiner Ankunft in Astorga ist es fast kalt.
    Meine Erkenntnis des Tages kann ich erst morgen formulieren. Denn eigentlich ist sie unsagbar. Ich habe Gott getroffen!
     
     
    Eindrucksvolle Stilmischung im Nieselregen: der Bischofspalast in Astorga  
     

4. Juli 2001 – Astorga
     
    Das waren gestern wahrscheinlich genau vierzehn Kilometer zu viel und meinem Körper ist jetzt nach einer Pause zu Mute. Wenn ich mehr als zwanzig Kilometer am Tag laufe, ist der nächste Tag gegessen. Aber manchmal muss man sich verausgaben, um Wesentliches zu erleben!
    Heute bin ich in Astorga und wohne im »Hotel Gaudí« gegenüber dem Bischofspalast, der von Antonio Gaudí erdacht und zwischen 1889 und 1913 in neugotischem Stil erbaut wurde. Dieser Palacio Episcopal ist von fantasievoller Schönheit. Das burgartige Meisterwerk sieht von jeder seiner fünf Seiten anders aus und wirkt wie eine Kreuzung aus Neuschwanstein und einem Dracula-Schloss. Der Nieselregen unterstreicht den leicht gruseligen Eindruck. Im Innern wartet auf die Besucher eine verschwenderische Lichtorgie à la Gaudí, hervorgerufen durch die bunten, dom artigen Fenster.
    Beim Frühstück mit Blick auf diese dunkelblaue Trutzburg habe ich kurz mit dem Gedanken gespielt, vielleicht doch heute noch weiterzulaufen. Im Radio singt allerdings Stevie Wonder im selben Moment irgendwas von ›Don’t go too soon!‹, geh nicht zu früh! Meinetwegen! Es ist zwar ein bisschen verrückt, seine Entscheidung von einem zufällig gedudelten Lied abhängig zu machen, aber bitte, ich richte mich danach und bleibe also. Es geht ja um nichts und ich habe auch noch genug Zeit. Ich vertraue darauf, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, und bleibe einen ganzen Tag in Astorga. Mein Zimmer kann ich für eine weitere Nacht behalten.
    Das, was ich gestern erleben durfte, kann ich weder erzählen noch aufschreiben. Es bleibt unsagbar. Schweigend und ohne jeden Gedanken zwölf Kilometer zu laufen kann ich nur jedem empfehlen. Larissa hatte mir in Grañon etwas gesagt, was ich für ziemlich albern hielt: »Irgendwann fängt jeder auf dem Weg an zu flennen. Der Weg hat einen irgendwann so weit. Man steht einfach da und heult.«
    Bei mir war es gestern so weit. Ich stehe mitten in den Weinbergen und fange aus heiterem Himmel an zu weinen. Warum, kann ich gar nicht sagen.
    Erschöpfung? Freude? Alles auf einmal? Weinen in den Weinbergen!? Ich muss gleichzeitig darüber lachen.
    Ja, und dann ist es passiert! Ich habe meine ganz persön liche Begegnung mit Gott erlebt.
    »Yo y Tú« war die Überschrift meiner Wanderung und das klingt für mich auch wie ein Siegel der Verschwiegenheit. In der Tat, was dort passiert ist, betrifft nur mich und ihn. Aber an der Wand der Grundschule standen drei Worte: »Ich und du«. Die

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