Ich bin dein Mörder: Thriller (Sam Burke und Klara Swell) (German Edition)
Liste. Im Hinblick auf ihre Zukunftsperspektiven darf es nicht weiter verwundern, allerdings habe ich festgestellt, dass die meisten der Frauen keine Partner in ihr Leben ließen, statt gar nicht erst fündig zu werden.
Natürlich stieg Mary-Ann am Museum aus. An den Schließfächern für die Garderobe traf ich sie wieder, wir hatten beide ein Ticket für dieselbe Ausstellung in der Hand. Auch das darf einen nicht weiter verwundern, denn ich hatte zuvor Tickets für jede Ausstellung gekauft und die anderen kurz davor in meiner Manteltasche verschwinden lassen. Ich lachte und fragte sie, ob es in der Ausstellung womöglich noch einmal Gelegenheit geben könnte, sie anzurempeln. Sie schob die Brille auf die Nase und stopfte ihren Schal zu der Tasche und der Daunenjacke in das Schließfach. »Möglicherweise«, antwortete sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich versprach, mir Mühe zu geben. »Wollen wir uns die Ausstellung zusammen anschauen? Ich bin ein großer Fan der Romantik und könnte Sie möglicherweise mit meinem Fachwissen beeindrucken.«
»Versuchen Sie’s«, sagte sie nach einem kurzen Zögern vorsichtig.
»Heute ist mein Glückstag«, sagte ich und wollte die Treppe zurück in den ersten Stock nehmen, aber Mary-Ann machte keine Anstalten, mir zu folgen.
»Nein, jetzt«, forderte sie. »Wenn Sie mich schon beeindrucken wollen, müssen Sie das vorher machen. Ich lasse mir doch nicht von einem Wildfremden eine Romantik-Ausstellung zeigen, der nicht einmal seine Qualifikation nachgewiesen hat.«
»Wussten Sie, dass der Roman ›Roter Drache‹ von Robert Harris in seiner Motivik auf ein Bild von William Blake zurückgeht?«, fragte ich.
Wie Sie möglicherweise bereits ahnen, habe ich tatsächlich einen Faible für Schauerromantik, und im Gegensatz zu den meist überaus konservativ kuratierten Schauen der großen Häuser hingen hier auch einige dunklere Werke dieser Epoche, und ich hatte die Ausstellung bereits am zweiten Tag nach ihrer Eröffnung besucht. Eine Ironie des Schicksals, dass ich Mary-Ann ausgerechnet hier begegnete, wobei ihr Kunstsinn sich nicht auf Malerei beschränkte, sondern überaus breit gefächert war, wie ich später feststellen sollte.
Die Macht der eigenen Entscheidung ist bei der Verführung einer Frau nicht zu unterschätzen. Und Mary-Ann ließ mich tatsächlich den Fremdenführer spielen. Sie war klug, und Kunst war ihre große Leidenschaft, ihr Fluchtpunkt aus ihrem Leben als Buchhalterin einer kleinen Restaurantkette und vor dem nahenden Tod.
»Wieso kommt keine an dich ran?«, fragte sie mich in einer Bar in Beacon Hill zwei Wochen später. Ich lachte. »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Wieso konnte dich keine knacken?«
Sie wollte sagen: Du siehst gut aus, du hast Manieren, du bist gebildet, wieso hast du keine Freundin? Aber natürlich fragte sie das nicht.
»Das ist ein schwieriges Thema«, versuchte ich abzulenken. Zumindest tat ich so, als wollte ich von dem Thema ablenken, auf das ich den ganzen Abend hingesteuert hatte.
»Stehst du auf Jungs?«, fragte Mary-Ann mit einem etwas zu neckischen Blick über den Strohhalm ihres Drinks. Sie wusste, dass ich nicht auf Jungs stand. In Wahrheit fragte sich Mary-Ann in diesem Moment alkoholgeschwängerten Übermuts, ob ich nicht vielleicht auf sie stand.
»Nein, Mary«, sagte ich traurig und streichelte etwas verlegen ihren Handrücken neben dem Strohhalm. »Ich bin sehr krank. Und ich habe vielleicht nicht mehr lange zu leben.« Mary-Ann schluckte, als ich das sagte.
Es dauerte zwei Tage, bis wir die Traurigkeit, die uns in Beacon Hill an jenem Abend übermannt hatte, abgestreift und den Entschluss gefasst hatten, dass es niemanden gäbe, der besser zusammenpasste, als zwei Menschen, denen nicht mehr viel Zeit blieb. Das größte Problem in jener Phase war für mich zu
verhindern, dass Mary-Ann ihrer besten Freundin von uns erzählte. Es gelang mir nicht bei allen Frauen, aber Mary-Ann hatte keine beste Freundin. Sie lebte mit ihren Büchern und ihrer Zukunftsangst in einem winzigen Apartment abgeschieden von der Welt. Heute kann ich behaupten, dass ich Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, an ihrem Blick erkenne. Er ist einerseits leerer und andererseits hungriger als der von Menschen mit Zukunft.
Ein paar Wochen später landeten wir in der Einsamkeit ihres Apartments, und Mary-Ann hatte Kerzen aufgestellt. Auf jedem freien Plätzchen standen kleine dicke Stumpen. Auf dem Nachttisch, auf der Kommode,
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