Ich bin der Herr deiner Angst
dauern, bis sie alles gesichtet haben, und bevor sie in die Tiefe gehen können, müssen sie sich die damals Beteiligten vornehmen. Jeder, der mit diesem Fall zu tun hatte, ist von diesem Moment an in Gefahr.»
Nicht erst von diesem Moment an, dachte er. Schon jetzt können ein halbes Dutzend abgeschlachteter Menschen irgendwo herumliegen, von denen wir noch gar nichts ahnen.
«Die Menschen müssen gewarnt werden», stellte er fest. «Das ist der erste Schritt. Danach müssen wir sehen, welche Spuren sich aus den neuen Erkenntnissen ergeben. Wenn ich mich richtig entsinne, gab es eine Zeitlang die Theorie, dass Max Freiligrath damals Unterstützung hatte. Warum ist diese These fallengelassen worden? Prüfen. Dann, vor Gericht, soll es ein paar durchgeknallte Irre gegeben haben, die aus dem Kerl eine Art Guru oder Messias machen wollten. Sind die noch aktiv? Prüfen. In der Akte muss das alles zu finden sein. Faber soll das angehen. Zur Not bekommt er jeden dazu, der irgendwie frei ist. – Irmtraud, geben Sie das weiter!»
Die Sekretärin nickte, doch Albrecht bekam es kaum mit. Wenn er noch länger nachdachte, würde ihm noch mehr einfallen, doch es war sinnvoller, wenn sich Faber damit befasste, während er die Akte sichtete.
Der Hauptkommissar zögerte. Da war noch etwas anderes, etwas, das er übersah. Er spürte es.
Doch er bekam es nicht zu fassen.
Er sah zwischen den beiden Frauen hindurch. Früher Nachmittag. Nach der fast schockartigen Klarheit dieses Vormittags bewölkte sich der Himmel nun wieder.
Keine neuen Wolken, dachte Jörg Albrecht. Alles, aber keine neuen Wolken. Ich muss erkennen …
Freiligrath selbst. Von allen Spuren war das die deutlichste. Auf Freiligrath hatte der Täter gewiesen. Albrecht musste eine Möglichkeit finden, mit dem Traumfänger zu sprechen – auch und gerade in dem Wissen, dass es vermutlich exakt das war, was der Mörder von ihm erwartete, nachdem er einen solchen Aufwand getrieben hatte, die Beamten mit der Nase auf den Traumfänger zu stoßen.
Und, nein, die eisige Kälte, die sich beim Namen Max Freiligrath und dem, wofür er stand, in Albrechts Hinterkopf ausbreitete, durfte keine Rolle spielen.
Freiligrath. Das war der Weg.
Was also konnte es sein? Was konnte es sein, das er übersah?
Sein Blick ging zu Irmtraud Wegner.
Die Sekretärin hatte den Anstoß gegeben. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit sehr viel mehr sagen können, doch sie kannte Jörg Albrecht, wie alle seine Mitarbeiter ihn kannten.
Sie wusste, dass sein Verstand freien, klaren Himmel brauchte, um zu funktionieren. Die Dinge erkennen zu können, wie sie sich in Wahrheit verhielten.
Sie betrachtete ihn, und er wusste, dass sie von sich aus nichts mehr sagen würde.
Doch dann, mit einem Mal, war es, als würde ein Lichtstrahl durch die graue Wolkendecke brechen.
Er sah die Sekretärin an, und mit einem Mal war es wieder da.
Das, was ihn von Heiner Schultz unterschied, der ein Genie war in der Analyse komplexer Situationen, Schritt für Schritt vorging und die Logik seines Gedankengangs jederzeit bis ins Detail reproduzieren konnte.
Was sich in Jörg Albrechts Innern bewegte, war anders. War mehr.
Es war eine Gabe. Die Dinge wahrzunehmen, die sich hinter den Dingen verbergen. Die unausgesprochenen Worte zu hören.
Dieser Fall, in dem alles anders war als jemals zuvor: Er hatte ihm diese Gabe nicht genommen.
Jörg Albrecht sah ein schreiend buntes Kleid in einem wahrhaft sonnigen Design. Farbe gewordene Aufmunterung – für Irmtraud Wegner selbst?
Wann war ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass es einen Mann in ihrem Leben geben musste?
Er war ein Mensch, dem die Privatsphäre seiner Mitarbeiter heilig war.
Doch Wegner hatte selbst den ersten Schritt gemacht.
«Was denken Sie, Irmtraud?», fragte er. «Glauben Sie, Sie schaffen es, dass er sich auf ein Gespräch mit mir einlässt? Horst Wolfram?»
***
Du hast nicht vor, mir zu erklären, was das heute Morgen sollte?
Die Nummer kannte ich nicht, doch der Inhalt der SMS ließ keine Frage offen, wer der Absender war.
Er verschickte ja gern mal mehr oder weniger anonyme Mitteilungen.
Die Empfängerin der letzten hatte ich vor ein paar Stunden an der Alsterquelle besichtigen dürfen. Das, was aus dem Sumpf noch rausschaute von ihr.
Wenn Joachim Merz nicht vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war, musste er inzwischen wissen, dass sie tot war.
Doch darüber kein Wort von ihm. Nichts als
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