Ich bin der Herr deiner Angst
die Frage, warum ich heute Morgen aus seiner Wohnung verschwunden war, ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen, während er noch unter der Dusche stand.
Konnte ich sie beantworten? Besser beantworten, als ich sie heute Morgen hätte beantworten können?
Wir hatten die Verbindung.
Wir wussten, was die Morde an Ole Hartung, an Kerstin, an der Zecke und dem Professor gemeinsam hatten.
Machte das Joachim Merz mehr oder eher weniger verdächtig?
Machte es überhaupt einen Unterschied?
Eines stand fest: Mit den Traumfänger-Ermittlungen konnte Merz nichts zu tun gehabt haben. Er war nur ein oder zwei Jahre älter als ich, was ich nebenbei auch bloß aus der Presse wusste.
So nahe stehen wir uns nun auch wieder nicht, dachte ich. Bloß weil wir ab und an miteinander ins Bett gehen.
Ich vermied den Blick in den Rückspiegel.
Albrecht hatte mir das Steuer überlassen, ganz freiwillig.
Ich glaubte, den Grund zu kennen.
Der erste Eindruck. Sein Spleen, die Atmosphäre eines Ortes zu erschnuppern wie ein Trüffelschwein im Hugo-Boss-Anzug.
Hinterm Steuer musste man auf andere Dinge achten, was in diesem Fall allerdings bedeutete, dass er von der Rückbank aus schnuppern musste. Auf dem Beifahrersitz saß Irmtraud Wegner, für die es hinten im Wagen schlicht zu eng geworden wäre.
Außerdem musste sie mir den Weg zeigen.
Diesen Teil der Stadt kannte ich fast nur vom Durchfahren. Eine der Möglichkeiten, dem Tunnel zu entgehen, wenn die Neuen Elbbrücken mal wieder dicht waren.
Natürlich hat jeder Teil von Hamburg etwas Besonderes, von den sündhaft teuren Quartieren in Blankenese oder den Walddörfern bis zu den Studentenghettos in Wandsbek oder Altona.
Harburg ist noch einmal anders. Trauriger irgendwie in manchen Ecken.
Diese hier gehörte dazu. Kurz hinter der Abfahrt von der A7 hatte es bis vor ein paar Jahren ein Kentucky Fried Chicken gegeben, wo ich ab und zu mal angehalten hatte, wenn ich zu faul gewesen war, selbst zu kochen. Davon abgesehen war die Gegend auf meinem persönlichen inneren Stadtplan Niemandsland.
«An der nächsten Ampel links», murmelte Irmtraud Wegner. «Richtung Kleingartenkolonie.»
Ich setzte gehorsam den Blinker.
Irmtraud wirkte angespannt.
Angst vor der eigenen Courage? Ich hatte keinen Schimmer, wie unser Chef auf den Trichter gekommen war, dass sie Kontakt mit Horst Wolfram haben musste. Vielleicht weil sie offenbar auch die Einzige war, die Hinnerk Hansen im Krankenhaus besucht hatte?
Wir alle sollten ein schlechtes Gewissen haben, dachte ich.
So viel zu den Kollegen, die angeblich Familie waren.
Auf jeden Fall hatte Albrecht wieder einmal richtig gelegen.
«Jetzt rechts.»
Die ersten Schrebergärten. Traurig. Ich konnte nicht sagen, woran ich das Gefühl festmachte. Vielleicht an dem Himmel, der jetzt wieder genauso grau war wie das Wasser des Raffineriehafens hinter dem Bostelbeker Hauptdeich, direkt im Anschluss an die Kleingartensiedlung.
Auf der rechten Seite verlief eine mehrgleisige Schnellbahnstrecke parallel zur Straße, dahinter eine Betonmauer.
Idyllisch.
Auf der linken Seite ein Industriekomplex.
«E.on», murmelte ich.
«Dahinter bleiben Sie stehen», sagte Irmtraud leise. «Fahren Sie noch ein Stückchen geradeaus. Nur falls er …»
Ich sah in den Rückspiegel.
«Ich komme sonst immer zu Fuß», erklärte die Sekretärin. «Also mit dem Bus und das letzte Stück dann zu Fuß. Aber es ist sowieso noch …»
Was die letzte Bemerkung zu bedeuten hatte, überließ sie unserer Phantasie.
Albrecht nickte verständnisvoll, schien aber ansonsten vollkommen damit beschäftigt, die düstere Stimmung in sich aufzunehmen. Ein Stück vor uns eine Fußgängerbrücke, die über die Fahrbahn und die Schnellbahntrasse führte.
Ich brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Irmtraud Wegner zwängte sich ins Freie. «Geben Sie mir fünf Minuten», bat sie. «Dann können Sie nachkommen.»
Ich sah auf die Uhr. «Okay.»
Albrecht blickte weiter geradeaus, während ich beobachtete, wie sie auf das umzäunte Betriebsgelände zuhielt, dann aber kurz davor rechts abbog. Ein Trampelpfad, der ins Nichts zu führen schien: Industriebrache, eine wilde Müllhalde, im Hintergrund ein paar kranke Bäume und schemenhaft der Deich zum Hafen. Auf der Deichkrone einzelne Spaziergänger. Eine junge Frau, die sich gegen den Sturm stemmte.
Was für eine Gegend für einen Spaziergang!
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier freiwillig ein Mensch lebt», murmelte
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