Ich bin der Herr deiner Angst
mir zuzuhören, habe ich mir erlaubt, in Ihrem Namen Erkundigungen einzuziehen. Max Freiligrath ist am 15. Juni 2006 aus der Haft entlassen worden …»
Albrecht sah, wie die Kommissarin Luft holte, doch er wusste, was kommen würde.
«… und umgehend in die Psychiatrie eingeliefert worden. Faktisch eine Sicherungsverwahrung, aber da sie nachträglich angeordnet wurde, wäre die Maßnahme laut dem Spruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 ungesetzlich gewesen.»
Der Hauptkommissar beobachtete, wie Friedrichs zentimeterweise der Unterkiefer herunterklappte. «Das Aktenzeichen kennen Sie nicht auch noch?»
Wegner ging nicht darauf ein. «Deshalb musste das Kind einen anderen Namen bekommen», erklärte sie. «Jedenfalls sitzt Freiligrath nach wie vor ein, in einer Sonderabteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses in Königslutter.» Pause. «In der Nähe von Braunschweig.»
Albrecht kniff die Augen zusammen. «Braunschweig?»
«Einer der Rechtspsychologen, die seinerzeit mit der Abfassung eines Gutachtens beauftragt wurden, war Professor Hartmut Möllhaus. Das erste Mal damals, dass er mit uns zusammengearbeitet hat.» Ein zuckersüßes Lächeln. «Nach Aussage von Isolde Lorentz.»
Der Hauptkommissar keuchte. «Sie haben die Lorentz informiert?»
Die Sekretärin fixierte ihn. «Was glauben Sie wohl, Herr Hauptkommissar, warum die Frau Präsidentin den ganzen Tag noch nicht angerufen hat?»
Er konnte es nicht fassen. «Sie informieren Isolde Lorentz über den Fortgang unserer Ermittlungen?»
Plötzlich wurde Wegners Stimme ganz leise. «Ich sorge dafür, dass diese Ermittlungen unter Ihrer Leitung ihren Fortgang nehmen können.»
Albrecht stierte sie an. Mit einem Mal begannen sich einige Bausteine zusammenzusetzen.
Ein Doppelspiel. Seine eigene Sekretärin spionierte für die Polizeipräsidentin – das war es, was Isolde Lorentz glaubte.
Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig sorgte Wegner dafür, dass Jörg Albrecht die Leitung der Ermittlung behielt. Deshalb hatte ihm die Lorentz den Fall nicht aus der Hand genommen: weil ein walkürenhafter Schutzengel im Blümchenkleid die Hand über ihn hielt.
Und er hatte Irmtraud Wegner behandelt wie den letzten Dreck, als sie ihm die entscheidende Information hatte geben wollen.
Hätte er ihr zugehört … Möllhaus könnte noch leben und …
«Nein.» Die Sekretärin sah ihn noch immer an. «Ich weiß, was Sie denken, aber: nein. Auch ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass der Professor in Gefahr sein könnte. Genauso wenig Margit Stahmke.»
«Stahmke», murmelte Albrecht. «Wie passt Stahmke ins Schema?»
«Sie war dabei», erklärte Wegner. «Damals noch bei den Öffentlich-Rechtlichen. Mit dem Traumfänger-Fall ist sie zum ersten Mal groß rausgekommen. Der eigentliche Beginn ihrer Karriere.»
Albrecht starrte gegen die Wand. Für eine Sekunde glaubte er zu begreifen, wie es funktionierte mit dem Raufaserputz.
«Es ist so deutlich.» Er schüttelte den Kopf. «Und ich habe es nicht gesehen.»
«Deshalb hat die Polizeipräsidentin Sie zu Professor Möllhaus geschickt. Für den Blick von außen. Wenn Sie selbst ein Teil des Bildes sind, können Sie niemals …»
Albrecht hob abwehrend die Hand. «Danke. Schon mal gehört.»
Jetzt begriff er seinen Fehler. Jetzt, wo es zu spät war. Ja, er war ein Teil des Bildes.
Aber wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass er im Mittelpunkt der Darstellung stehen musste.
Und das war nicht die Wahrheit.
Er holte Luft. «Gut», sagte er.
Doch nichts war gut. Überhaupt nichts war gut.
Und doch blieb ihm keine Wahl.
Das hier war seine Ermittlung. Möglicherweise die größte und wichtigste in seinem Leben. Und es war ein Geschenk, dass er sie noch immer leiten durfte.
Wenn er auch nur eine Winzigkeit von dem, was er in den letzten Tagen angerichtet hatte, wiedergutmachen wollte, konnte er nur eins tun.
Seine Pflicht.
Und niemand sollte ihm erzählen, nicht er trage die Verantwortung für die Toten der letzten Tage, sondern Isolde Lorentz oder Irmtraud Wegner – oder die
Umstände
, die immer gerne bemüht wurden, wenn niemand den Kopf hinhalten wollte.
Doch darüber durfte er nicht nachdenken. Im Moment zählte nur eins.
Die Pflicht.
«Gut», wiederholte er. «Wir müssen völlig neu …» Er zögerte. «Nein, wir müssen
nicht
völlig neu ansetzen.»
Er hatte das Wichtigste, das Offensichtliche
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