Ich bin der Herr deiner Angst
übersehen.
Und doch behielt alles, was sie bis zu diesem Augenblick herausgefunden hatten, seine Gültigkeit.
Irmtraud Wegner hatte nichts anderes getan, als genau jene Frage zu beantworten, die Jörg Albrecht an seine Ermittlerrunde gestellt hatte: Wo liegt der Zusammenhang? Was ist das verbindende Element?
«Wir haben unser verbindendes Element», stellte er fest. «Das Element ist der Traumfänger.»
Friedrichs sah ihn an. «Aber Freiligrath kann unmöglich der Mörder sein.»
«Nein.» Albrecht nickte. «Obwohl alles auf ihn hindeutet, in meterhohen Buchstaben, die uns bis zu diesem Augenblick entgangen sind. Sämtliche Opfer waren direkt oder indirekt an der Freiligrath-Ermittlung beteiligt. Und falls wir das übersehen sollten, ist auch das Leitmotiv dasselbe: Angst. Eine Parallelität, die unmöglich ein Zufall sein kann.»
«Und das bedeutet?»
«Das bedeutet …» Auch Albrecht wurde jedes Wort erst in dem Moment klar, in dem er es aussprach, doch mit jedem dieser Worte wurde ihm zugleich bewusst, wie richtig er den Täter eingeschätzt hatte: Er war in höchstem Maße intelligent, wenn nicht genial. Genial wie Max Freiligrath selbst. «Das bedeutet, dass unser Mörder
will
, dass wir genau die Rückschlüsse ziehen, die wir im Augenblick ziehen. Warum er es darauf anlegt, muss für den Moment im Dunkeln bleiben, aber dass er uns diese Sichtweise aufzwingen will, steht außer Frage. Und damit haben wir zwei Möglichkeiten.»
«Wir lassen uns drauf ein», murmelte Friedrichs. «Oder wir lassen es bleiben – aber wie soll das funktionieren? Nachdem wir endlich begriffen haben, wo die Gemeinsamkeiten liegen, tun wir doch wieder so, als wüssten wir von nichts?»
Albrecht schüttelte den Kopf. «Ein entschiedenes Nein. Aber in dem Moment, in dem wir die Gemeinsamkeiten erkannt haben, gleichzeitig jedoch wissen, dass der Täter, auf den sie hindeuten, nicht der Schuldige sein kann, eröffnet sich uns eine völlig andere, neue Perspektive.»
Die Kommissarin sah ihn verständnislos an.
«Die Gemeinsamkeiten sehen wir nun ganz deutlich», erklärte der Hauptkommissar. «Die Frage ist, wo sind die Unterschiede?»
Friedrichs kniff die Augen zusammen. «Gibt es die? Müsste das nicht die erste Frage sein?»
«Richtig. Aber die kann ich Ihnen beantworten: Wie sind wir überhaupt an diesen Punkt gekommen? Der Täter selbst hat uns darauf hingewiesen. Das ist der erste Unterschied: die Öffentlichkeit.
Freiligrath hat sie billigend in Kauf genommen, doch bei ihm war sie niemals Selbstzweck, wie sie das für unseren Täter zu sein scheint.»
«Also ist unser Täter ein Trittbrettfahrer?», fragte Friedrichs. «Er exerziert Freiligraths Versuche nach? Aber er will damit zum Medienstar werden?»
Der Hauptkommissar zögerte. «Jedenfalls will er genau diesen Eindruck erwecken – dass er uns Kopien von Freiligraths Experimenten abliefert.
Und nicht uns allein. Der gesamten Öffentlichkeit. Es ist schon fast ein Wunder, dass noch niemand von der Journaille auf den Zusammenhang gekommen ist. Zumindest die Stahmke hätte …»
«Vielleicht hat sie ja?»
Albrecht blinzelte.
«Sie könnte es sogar von Anfang an gewusst haben», erklärte die Kommissarin. «Deshalb war gerade sie es, die er mit Informationen versorgt hat. Weil sie so oder so auf den Zusammenhang gekommen wäre. Ein Geschäft zum gegenseitigen Vorteil: Er bekommt die größtmögliche Aufmerksamkeit der Medien, sie kriegt ihre Story. Aber vielleicht hat er die Bedingung gestellt, dass sie den Zusammenhang eben nicht in ihren Berichten deutlich macht, weil er wollte …»
Albrecht tat etwas, von dem er wusste, dass Friedrichs es als Ausdruck seiner höchsten Wertschätzung erkennen würde.
Er pfiff leise durch die Zähne.
«Weil er wollte, dass
wir
ihn herstellen. Das ergibt einen Sinn. Auch das ist etwas, an dem Max Freiligrath niemals ein Interesse hatte. Die Ermittler waren ihm so gleichgültig wie die Öffentlichkeit, zumindest bis zu seiner letzten Tat. Ihm kam es auf die Reaktion einzelner Menschen auf ihre größten, schrecklichsten Ängste an. Abstruse Ängste. Bizarre Ängste. Und genau da liegt der zweite Unterschied. – Hannah, Sie kannten Kerstin Ebert besser als jeder andere auf dem Revier: Hatte sie besondere Angst vor Radioaktivität? Eine Angst, die ans Irrationale grenzte, diese Grenze womöglich sogar überschritt?»
«Radio…» Friedrichs schüttelte den Kopf. «Nein», murmelte sie. «Luftsprünge hat sie nicht
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