Ich bin der Herr deiner Angst
Bedürfnissen der Bevölkerung, dachte Albrecht. Dem Bedürfnis nach Sicherheit vor Straftätern, die man der Öffentlichkeit selbst nach Verbüßung ihrer Haftstrafe nicht wieder zumuten durfte.
Doch er nickte verständnisvoll. Ihm war klar, dass die Frau sich weit aus dem Fenster lehnte, wenn sie versuchte, ihnen Zugang zu Freiligrath zu verschaffen.
In einem Punkt war er sich jedenfalls sicher: Maja Werden war absolut unbestechlich. Nicht für Geld – und für gute Worte schon gar nicht. Sie hatte sich Jörg Albrechts Argumentation sehr genau angehört und hatte versucht, seinen Gedankengang auseinanderzunehmen, wie sie das auch gestern getan hatte. Und am Ende hatte sie ein Fazit gezogen und die Entscheidung getroffen, den Hauptkommissar zu unterstützen.
Zum ersten Mal in seinem Leben sah sich Jörg Albrecht mit der Frage konfrontiert, ob Psychologen womöglich ganz ähnlich arbeiteten wie er selbst.
Zumindest einige von ihnen.
Die Dinge, wie sie in Wahrheit sind, dachte er. Die Abfolge von Ursache und Wirkung. Ein Fünf-Millimeter-Schusskanal deutete auf eine Penetration durch Kleinkalibermunition hin. In der Welt der Rechtspsychologie mussten Ursache und Wirkung in einem weit komplexeren Verhältnis stehen.
Er stellte fest, dass er beachtlichen Respekt für diese junge Frau empfand.
Seine Begleiterinnen sahen ihn abwartend an. Friedrichs kannte sein Vorgehen, die Atmosphäre des Ortes wahrzunehmen. Werden erfasste es entweder intuitiv oder nahm es einfach hin.
«Wo …» Er drehte sich langsam um.
Wo befindet sich der Zellenblock?,
war mit Sicherheit die falsche Frage, doch die junge Frau deutete bereits nach rechts.
«Die forensische Abteilung ist im Nordflügel untergebracht. Freiligrath allerdings …»
Albrecht hob die Augenbrauen.
«Streng genommen fällt er aus der Personengruppe, die ich untersuche», erklärte sie. «Da seine Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt wurde, war sie formal gesehen ungültig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer Grundsatzentscheidung …»
Der Hauptkommissar winkte ab.
«Da vorne», sagte sie und deutete geradeaus. «Im ehemaligen Schleusenhaus. – Bitte lassen Sie
mich
reden! Ich kann nichts versprechen, doch ich werde tun, was ich kann.»
***
Verkehrte Welt.
In den Knasteinrichtungen, die ich kannte, liefen die Häftlinge in Anstaltskleidung rum. In Königslutter trug nur das Pflegepersonal hässliche pastellfarbene Kittel, die Insassen dagegen Klamotten ganz nach ihrem Geschmack.
Ich war mir nicht sicher, ob Albrecht das ebenfalls wahrnahm. Irgendwas war seltsam mit ihm, seitdem wir hier eingetroffen waren. Als ob er plötzlich Angst hätte.
Etwas, das ich mir kaum hätte vorstellen können bei ihm – unter gewöhnlichen Umständen.
Doch ich hatte seine Augen gesehen, die plötzliche Erkenntnis, als Irmtraud Wegner den Traumfänger ins Spiel gebracht hatte.
Albrecht hatte Freiligrath nicht auf dem Schirm gehabt, und das war ein Fehler gewesen. Dabei hatte er die Serie von Verbrechen, der er letzten Endes seinen heutigen Posten verdankte, nicht etwa einfach vergessen.
Wir alle auf dem Revier, die Sekretärin, die Kollegen … Der Name Freiligrath war nicht jeden Tag gefallen, nein. Wenn überhaupt, dann senkte man automatisch die Stimme. Doch wir hatten diese Ermittlung jedenfalls nicht beiseitegedrängt, wie Jörg Albrecht das getan hatte.
Und nun würde genau dieser Fall über ihn kommen, in seiner brutalsten, unmittelbarsten Gestalt.
Maja Werden hatte uns durch eine Panzerglastür geführt, wo wir unsere Handys an einer Pförtnerloge hatten abgeben müssen. Das langgestreckte Gebäude, das locker über hundert Jahre alt war, sah von innen vollkommen anders aus, als man auf den ersten Blick hätte erwarten können. Neonbeleuchtete Flure, sämtliche Türen aus Sicherheitsglas. Unsere Führerin öffnete sie mit einem elektronischen Schlüssel, den sie aus ihrer Jackentasche gezaubert hatte. Ein, zwei Pfleger kamen uns entgegen, doch sobald die Leute Maja Werden erkannten, kontrollierte kein Mensch auch nur unsere Ausweise.
Wie eine lange verschollene Schulfreundin, dachte ich.
Irgendwie gefiel sie mir nicht mit ihren gezupften Augenbrauen, dem Pagenkopf und dieser humorlosen Art.
Von den Patienten bekamen wir nicht viel zu sehen. Zwei ältere Frauen saßen in einem Fernsehraum. Eine bewegte ständig den Mund, doch wenn sie etwas sagte, übertönte sie jedenfalls nicht die Gameshow, die auf dem Bildschirm
Weitere Kostenlose Bücher