Ich bin der Herr deiner Angst
werden natürlich verstehen, dass meine Zeit begrenzt ist. Nur dann, wenn es Ihnen gelingt, mich davon zu überzeugen, dass Sie bereit sind, sich auf eine ernsthafte Betrachtung Ihres
Falles
einzulassen – eine
wissenschaftliche
Betrachtung … Dann, und nur dann, könnte ein solches Gespräch auch für mich interessant werden. – Betrachten Sie selbst sich als Wissenschaftler, Herr Albrecht?»
Der Hauptkommissar musterte den Mann. Auf die Beleidigung mit dem Kaugummi nicht zu reagieren, war er Manns genug. Doch worauf wollte Freiligrath hinaus?
«Kriminologie ist eine Wissenschaft», sagte Jörg Albrecht vorsichtig. «Für die Kriminalistik – also das, womit ich als Ermittler befasst bin – gilt das ebenfalls, allerdings nur in begrenztem Maßstab. Eine angewandte Wissenschaft, wenn Sie so wollen. Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit», fasste er zusammen. «In diesem Sinne bin ich Wissenschaftler.»
Ein nachdenkliches Nicken. «Fürchterlich pathetisch formuliert, aber ja: Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. – Bitte! Sie dürfen Ihre erste Frage stellen.»
Albrecht kniff die Augen zusammen. Begriff er, was der Kerl von ihm wollte?
Er hatte ihn aufgefordert, eine Frage zu stellen.
«Bei Ihren damaligen Taten …»
«Aber Herr Albrecht!» Zungeschnalzend sah der Mann ihn an. «Jetzt dachte ich tatsächlich, wir hätten uns verstanden. Ich möchte mit Ihnen ein wissenschaftliches Gespräch führen …»
Augenscheinlich wirklich nur mit mir, dachte der Hauptkommissar. Friedrichs’ Anwesenheit nahm er nicht mehr zur Kenntnis.
«Und wie sollte ich mir irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse erhoffen», erkundigte sich Freiligrath, «wenn Sie gleich bei Ihrer ersten Frage nicht etwa unseren Gegenstand, sondern
mich
in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen? Kein Betrachter, lieber Herr Albrecht, kann einen unvoreingenommenen Blick auf ein Bild werfen, wenn er selbst ein Teil des Dargestellten ist.»
Der Hauptkommissar presste die Kiefer aufeinander, bis er ein Knacken in den Ohren spürte.
«Gut», presste er hervor. «Dann lassen Sie mich …»
«Sekunde!», bat der Traumfänger. «Lassen Sie mich Ihnen das verdeutlichen!»
Wie zufällig lehnte er sich zurück und drückte einen Knopf auf seiner Arbeitsfläche. Albrecht konnte nicht genau erkennen, um was für ein Gerät es sich handelte, doch im nächsten Moment erwachte neben dem Fenster eine rote Leuchte zum Leben.
Der Schwesternruf.
«Denken Sie nur nach», wandte Freiligrath sich an Albrecht. «Überlegen Sie sich sorgfältig Ihre Frage. Wir haben alle Zeit der Welt.»
Der Hauptkommissar holte Luft. Jeder Atemzug kostete Mühe, seitdem er dieses Zimmer betreten hatte.
Sie hatten
nicht
alle Zeit der Welt. Sie hatten nicht eine Minute zu verlieren, und dieser Mann wusste das.
Die Frage war: Was wusste er außerdem? Konnte der Mann ihnen tatsächlich helfen?
Er hat uns seine Hilfe angeboten.
Doch muss das bedeuten, dass er tatsächlich etwas weiß?
Wenn das nicht so war, hatte Jörg Albrecht an einem entscheidenden Punkt die falschen Schlussfolgerungen gezogen.
In diesem Fall wusste Freiligrath weniger als die Ermittler selbst – und würde die Gelegenheit nutzen, seinerseits an Informationen zu kommen.
Ich muss diese Möglichkeit im Auge behalten, dachte der Hauptkommissar. Aber sie darf nicht mein Vorgehen bestimmen.
Mit sorgfältig manikürten Fingern strich sich der Traumfänger eine unsichtbare Haarsträhne aus der Stirn.
Ein ernsthaft geistesgestörter Wahnsinniger, der die Albträume von Menschen Wahrheit werden ließ?
Keine Spur von ihm bisher. Einen Moment lang war in Albrecht eine Erinnerung an seinen alten Gemeinschaftskundelehrer aufgeblitzt.
Er hält uns hin, dachte der Hauptkommissar. Da kommt noch was.
Im selben Moment sah Freiligrath an seinen Gästen vorbei zur Tür.
«Ah, Schwester Dagmar!» Die Andeutung eines Lächelns.
Eine junge Frau, Mitte zwanzig, höchstens, ein Kittel in altrosa. Sie war ein Stück in den Raum gekommen. Der Psychologe wandte sich zu ihr um und stieß versehentlich gegen den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch …
Nichts, was er tut, geschieht
versehentlich
.
Reflexartig fing das Mädchen den obersten der Bände auf. Die Seiten blätterten auf …
Albrecht konnte nicht erkennen, was genau passierte.
Ein erstickter Schrei, das Buch fiel zu Boden.
Das Mädchen wich zurück, taumelte.
Albrecht spannte sich, bereit aufzuspringen.
Sitzen bleiben! Freiligraths
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