Ich bin der Herr deiner Angst
Blick duldete keine Widerrede.
Die junge Schwester schlug die Hände vor den Mund und stolperte rückwärts zur Tür, das Gesicht kreideweiß. Dann war sie verschwunden. Einzig ihre panischen Schritte waren noch deutlich auf dem Linoleum des Korridors zu vernehmen.
Der Traumfänger sah ihr aufmerksam nach und nickte wie zu sich selbst.
Dann bückte er sich.
Bedächtig legte er das Buch auf der Tischplatte ab. Von selbst schlugen die Seiten auf.
Freiligrath zog ein Lesezeichen hervor, hielt es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger.
Albrecht kniff die Augen zusammen. Ein Blatt. Ein platt gepresstes, graubraunes Herbstblatt oder …
Der Psychologe drehte es um eine Winzigkeit, veränderte den Winkel.
Hannah Friedrichs stieß ein Keuchen aus.
Kein Blatt.
«Hyla arborea»,
erklärte der Traumfänger. «Der europäische Laubfrosch. Der einzige hierzulande genuin beheimatete Vertreter einer weltweit vorkommenden Art.»
Die Kommissarin starrte ihn an. «Sie … Das Mädchen hat Angst vor
Fröschen
?»
Bedauernd schüttelte der Psychologe den Kopf. «Ich fürchte, ich kann diese Einmischung in unseren akademischen Diskurs nicht akzeptieren, Frau Friedrichs. – Nekrophobie», wandte er sich an Albrecht. «Die Angst vor der Gegenwart des Todes in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Särge, Grabsteine oder eben … Leichen. Kadaver. Das Wesen der Angst ist vielfältig. In jedem von uns existieren Ängste, die wir uns nur zum geringen Teil vergegenwärtigen.»
Jetzt, erst in diesem Moment, trat der Ausdruck in seine Augen, den Jörg Albrecht auf dem Gesicht des Traumfängers erwartet hatte:
Kalt. Herrisch. Erschreckend.
Erschreckend vor allem deswegen, weil es
nicht
der Blick eines Wahnsinnigen war, sondern derjenige eines Menschen, der sich über jeden seiner Schritte vollkommen bewusst ist.
Über seine Ziele und über die Methoden, mit denen er sie erreichen kann.
«Das, Herr Albrecht, ist wissenschaftliche Forschung. Die unmittelbare Beobachtung am Objekt, der zuweilen jahrelange, aufwendige Vorarbeit vorausgeht. Gerne führe ich mit Ihnen ein wissenschaftliches Gespräch. Sie stellen Ihre Fragen. Ich stelle meine. Und ich bin mir sicher, dass jeder von uns aus diesem Gedankenaustausch wichtige Erkenntnisse mitnehmen wird.
Aber lassen Sie mich präzisieren: Jedes Mal, wenn ich den Eindruck gewinnen muss, dass Sie versuchen, nicht das Objekt unserer Erörterung in den Mittelpunkt zu rücken, unseren konkreten Untersuchungsgegenstand, sondern
mich
… Jedes Mal, wenn Ihre Antworten auf die Fragen, die ich Ihnen meinerseits stellen werde, die grundlegenden Tugenden einer jeden akademischen Arbeit vermissen lassen: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Vollständigkeit … Jedes Mal, wenn ich erkenne, dass Sie die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens noch immer nicht begriffen haben, werde ich gezwungen sein, meinen akademischen Ansatz mit einem Exempel zu unterstreichen.»
Der platt gepresste Umriss des Laubfroschs wurde ein Stück gehoben.
Ein erstarrtes Abbild des Todes.
***
«Bei Lichte betrachtet», murmelte Albrecht. Am Fuß der Treppe zum Obergeschoss, wo die violette und die altrosane Linie wieder zu uns stießen, war er stehen geblieben. «Sollte ein Mann, der sein Leben lang das Wesen der Angst erforscht, sich nicht sämtliche Finger lecken, wenn wir ihn in irgendeiner Weise an der Ermittlung beteiligen?»
Ich hob die Augenbrauen. «Vorausgesetzt, er ist nicht an den
Taten
beteiligt.»
Albrecht zögerte, schüttelte dann aber den Kopf. «Unwahrscheinlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Physisch kommt eine Mitwirkung nicht in Frage – er sitzt hier fest. Ob er Kontakte nach außen hat, müssen wir prüfen. Doch selbst dann …» Er sah mich an. «Betrachten Sie unsere Morde, Hannah, aber betrachten Sie sie genau! Das Element der Angst spielt eine Rolle, natürlich, doch wie weit sind sie von seinem wissenschaftlichen Anspruch entfernt? Auch seine Opfer sind gestorben, richtig, doch nicht die Intention, sie zu töten, stand für ihn im Mittelpunkt, sondern die Gelegenheit, die Reaktion eines Menschen zu beobachten, der mit seinen persönlichen Albträumen konfrontiert wird. Nicht anders, als wir das gerade eben erlebt haben. Wie hätte er das anstellen sollen, bei Möllhaus etwa? Wenn wir vielleicht eine Kamera im Sarg gefunden hätten …»
Ich schluckte. Man konnte sich auch
zu
viel Mühe geben, die Gedanken des Täters nachzuvollziehen.
«Sosehr diese Morde seinen eigenen
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