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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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einer Seite, schrieb einige Worte in einen Spiralblock. Blätterte weiter.
    Albrecht räusperte sich.
    «Sofort.» Gemurmelt. «Bitte noch einen winzigen Moment. Ich … habe … hier … eine recht wichtige …» Eine doppelte Unterstreichung irgendwo in der Seitenmitte. «Sache.»
    Er blätterte weiter.
    «Jörg Albrecht», sagte Jörg Albrecht vernehmlich. «Kripo Hamburg. Meine Kollegin Hannah Friedrichs.»
    Der Mediziner seufzte, verschloss sorgfältig seinen Füllfederhalter und legte ihn beiseite.
    Er stand auf.
    Der Mann war hochgewachsen, Typ alternder Beau. Die Sorte, die sich die Schläfen grau färbte, damit sie gleichmäßig grau wirkten. Ausgeprägte Nase, entschlossenes Kinn und sehr aufmerksame Augen.
    Eine Haltung, aus der deutlich wurde, dass nicht die kleinste Regung dem Zufall überlassen blieb.
    Mit zwei Schritten war er bei seinen Gästen, deutete eine Verneigung an, griff nach Friedrichs’ Hand – und führte sie an die Lippen.
    «Es ist mir ein Vergnügen!», murmelte er und richtete sich auf. «Maximilian Freiligrath.»

[zur Inhaltsübersicht]
Zwischenspiel IV
    Feldstecher und Nachtsichtgerät sind hier unnötig.
    Diese Utensilien sind in Hamburg geblieben, wo der graue Mann, der Gefangene der blechernen Wände, auch an diesem Abend seinen einsamen Kampf ausfechten wird.
    Die Gegenwart der nimmermüden Augen, die wochenlang jeden seiner Schritte verfolgt haben, wird dort heute nicht notwendig sein.
    Sie haben ein wichtigeres Ziel, auf das sie nun ihre Aufmerksamkeit richten werden.
    Alles eine Frage der Perspektive.
    Wolken ziehen sich über den Bergen zusammen, und das Tal von Königslutter verwandelt sich in eine Ansammlung unterschiedlicher Abstufungen von Grau. Die Leuchtkraft der Farben schwindet, und man könnte erwarten, dass nun auch die einzelnen Gegenstände beginnen würden, ineinander zu verschwimmen.
    Doch das Gegenteil ist der Fall.
    Die Schärfe der Konturen nimmt zu.
    Die Dinge sind deutlicher geworden, die Position der Objekte im Raum.
    Das Experiment nähert sich seiner entscheidenden Phase. Wichtige Bestandteile der Versuchsanordnung werden nun exakt in der Weise platziert, wie es von Anfang an beabsichtigt war.
    Doch je näher das Projekt seinem Endstadium rückt, desto stärker wächst die Gefahr der Entdeckung. Vieles könnte jetzt erkannt werden. Aus der richtigen Perspektive.
    Doch das wird nicht geschehen.
    Wenn sie imstande wären, das, was ist, von dem zu trennen, was sie zu wissen glauben … Doch ihr Vertrauen auf die Abfolge von Ursache und Wirkung ist zu stark, und das verschleiert ihren Blick.
    Der Blick von außen ist notwendig. Ohne diesen Abstand bleibt die Natur der Dinge unbestimmt.
    Ein Versäumnis, das Konsequenzen haben wird.
    Tödliche Konsequenzen.
    Die Gestalt, deren Augen die Szenerie beobachten, ist wieder beinahe unsichtbar – was in diesem Fall unnötig wäre. Keiner der Spaziergänger, die auf den Wegen oberhalb von Königslutter unterwegs sind, würde ihr einen zweiten Blick gönnen. Sie ist nicht mehr als ein Teil des Panoramas, wie auch die Klinikanlage selbst, weit unten im Tal. Der Aussicht wegen haben die Menschen den Aufstieg auf sich genommen, und doch sehen sie nichts von der wahren Natur der Dinge.
    Das Fahrzeug, dasselbe vermutlich, das noch wenige Stunden zuvor an einem stinkenden Abzugsgraben in Hamburg-Harburg geparkt haben dürfte, ist nicht mehr als einer der unzähligen verwirrend bunten Punkte eines impressionistischen Gemäldes.
    Doch die Farben schwinden.
    Die wahren Konturen beginnen hervorzutreten.
    Nicht mehr lange, und sie werden unübersehbar sein.
    Mit Blut gezeichnet.

[zur Inhaltsübersicht]
acht
    J örg Albrechts Widerwille gegen Überraschungen war legendär.
    Er erinnerte sich an Joannas Gesichtsausdruck, jedes Mal zu seinem Geburtstag, jedes Mal zu Weihnachten. Sie selbst hatte es längst aufgegeben, die ihm zugedachten Geschenke aufwendig einzupacken.
    Allerdings galt das nicht für die Kinder.
    Wehe, wenn auf seinem Gesicht etwas anderes zu sehen war als eine Miene reiner, verzückter Erwartung, die exakt in dem Moment, in dem er jeden einzelnen Klebefilmstreifen vorsichtig gelöst hatte, in ekstatische Freude umzuschlagen hatte.
    Ein Gefühl, von dem er kaum weiter hätte entfernt sein können als in diesem Moment.
    Max Freiligrath, der Traumfänger.
    Es war erst ein paar Stunden her, dass der Hauptkommissar die alten Aufnahmen gesehen hatte. Das Polizeifoto zeigte einen Herrn in Albrechts Alter –

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