Ich bin der Herr deiner Angst
Augen. Nicht auf die Stirn, nicht auf die Nase. In die Augen. Und er reagierte nicht, wenn Jörg Albrecht diesen Blick zurückgab.
Der Hauptkommissar nickte.
Ja, er hatte überlegt. Die halbe Nacht hatte er gegrübelt, den gesamten Morgen. Sogar während des Gesprächs bei Rabeck. Noch auf der Fahrt hierher, schweigend neben Maja Werden im Wagen, hatte er gegrübelt.
Die Gegenstände im Raum der Ermittlung. Die Verbindungslinien, die sich zwischen diesen Gegenständen spannen ließen.
Vorausgesetzt, Freiligrath wusste tatsächlich etwas – und davon musste Albrecht nach wie vor ausgehen. Falls das nicht zutraf, war sein gesamter Ansatz falsch …
Vorausgesetzt, Freiligrath wusste tatsächlich etwas, war es eine Frage der richtigen Strategie, ihm diese Information zu entlocken.
Diese Strategie konnte nur darin bestehen, den Mann zum Reden zu bringen. Freiligrath wünschte ein wissenschaftliches Gespräch?
Dem Manne kann geholfen werden, dachte Jörg Albrecht.
Wenn es ihn nur zum Reden bringt.
Ein Gespräch mit einem Gutachter, einem Sachverständigen. Maja Werden hatte dem Hauptkommissar diese Brücke gebaut, als Dr. Seidel drauf und dran gewesen war, sich gegen Albrechts Ansinnen zu sperren.
Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm klar geworden war, wie nahe sie der Wahrheit gekommen war.
Ein Gespräch mit einem Sachverständigen.
Einem Sachverständigen der Angst.
Der Hauptkommissar würde höllisch aufpassen müssen, auf jeden Halbsatz, jeden Zwischenton. Er würde gezwungen sein, sich vorzutasten, vom allgemeinen zum konkreten Fall, und dabei seinerseits jeden Augenblick auf Fangfragen des Psychologen gefasst sein müssen.
Albrecht nickte, wie zu sich selbst. «Was mich interessieren würde …» Er setzte die Untertasse auf seinem Oberschenkel ab. «Sie haben sich mit dem Phänomen der Angst beschäftigt wie kaum ein zweiter Mensch. Was ist das: Angst? Sie haben uns gestern ein … sagen wir, ein Beispiel gegeben: Todesangst.»
Freiligrath hob die Hand.
Für einen Atemzug musste Albrecht an Heiner Schultz denken. Wie eine Travestie auf die Einhalt gebietende Geste des alten Mannes.
«Unser Beispiel war in mancher Hinsicht ungeschickt gewählt», gestand der Psychologe. «Nehmen Sie etwa diese Tasse Kaffee.» Ein Nicken zu Jörg Albrechts Oberschenkel. Eine Sekunde Schweigen, bis der Hauptkommissar der Blickrichtung folgte. «Möglicherweise – aber eher unwahrscheinlich – haben Sie einen leicht metallischen Beigeschmack bemerkt. Er lässt sich daraus erklären, dass Arsen zu den Halbmetallen zählt. Unter Umständen verspüren Sie auch bereits ein leichtes Missgefühl im Magen und … ungefähr
jetzt
stellen Sie fest, dass Ihre Hände kalt werden – eine erste Folge des beginnenden Kreislaufabfalls. Ähnlich der leichte Schwindel, der kalte Schweiß, den Sie …»
Eine ruckartige Bewegung der Kaffeetasse. Die Brühe schwappte über Albrechts Anzughose. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Magen, seine Hände …
Er starrte den Psychologen an.
«Das ist ein Trick!», flüsterte er. «Sie lügen!»
Max Freiligrath betrachtete ihn aufmerksam, legte den Kopf nachdenklich auf die Seite und musterte Albrechts Gesicht, seine Hände.
«Sie sagen es», bestätigte der Traumfänger. «Und doch haben Sie soeben sämtliche von mir beschriebenen Symptome verspürt, welche im Fall einer Arsenvergiftung zwar ähnlich, aber schwerlich so rasch eintreten würden. Weil es sich in Ihrem Fall nämlich um eine Symptomatik manifester Angst handelt.»
Ein Sachverständiger?
Ein Irrer!
Schlimmer: beides gleichzeitig!
Albrecht biss die Zähne aufeinander. Er hatte es gewusst. Mit exakt einer solchen Teufelei hatte er gerechnet.
Doch wenn er tatsächlich damit gerechnet hatte … Sein Herz schlug Purzelbäume. Die Tasse klapperte auf der Untertasse. Albrecht musste mit der zweiten Hand zufassen.
«Tremor», erklärte Freiligrath. «Unkontrolliertes, hochfrequentes Muskelzittern ist ein weiteres Symptom.»
Aufmerksam verfolgte er, wie Albrecht die Attacke niederzwang und die Tasse auf den Boden stellte.
«Sehen Sie?» Der Psychologe nahm selbst einen Schluck. «Was Sie eben erlebt haben, war jenes Gefühl, das man gemeinhin als Todesangst bezeichnet. Der Unterschied zum Mechanismus, den wir bei Schwester Dagmar verfolgen durften, besteht darin, dass es sich bei Ihnen um eine reguläre Angst, die sogenannte
existentielle
Angst handelt, die jedem Menschen eigen ist. – Sie wissen, dass ich
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