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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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wir die beiden um ihre Fingerabdrücke bitten», sagte ich leise in Richtung Lehmann. «Für die Gegenprobe. Damit wir wissen, welche Abdrücke die Spurensicherung außer Acht lassen kann.»
    Unser Jüngster nickte. Ich glaubte mich zu erinnern, dass er ein besonderes Faible für Zombiefilme hatte. Jedenfalls schien ihm das Ganze am wenigsten von uns auszumachen.
    «Na also», murmelte Martin Euler. Vorsichtig hob er sein chirurgisches Instrument ins Licht. Etwas Winziges, Fahlweißes hing zitternd an der Spitze.
    «Eine Made?», erkundigte sich Lehmann.
    Euler antwortete nicht sofort, sondern griff in seinen Instrumentenkoffer, holte ein mit einem Korken verschlossenes Glasröhrchen hervor, das er geschickt mit einer Hand öffnete.
    «Schht, Kleiner!», murmelte er. «Geht ganz schnell.»
    Die Made verschwand in einer farblosen Flüssigkeit am Boden des Röhrchens. Martin Euler verschloss es wieder, schüttelte es kurz und verstaute es in seinem Koffer.
    «Nicht einfach eine Made!» Streng sah er Lehmann an, bevor er sich zu Lorentz und mir umdrehte. «Vor vierzehn Tagen, sagten Sie?»
    Der Mann musste uns während seiner unappetitlichen Prozedur ganz genau zugehört haben.
    «Ich …» Die Polizeipräsidentin schüttelte den Kopf. «Wir haben uns … Am zweiten Oktoberwochende habe ich mit Guido gesprochen. Da sagte er, er wäre unter der Woche hier gewesen. Also vor zwei oder drei Wochen. Es ging ihm gut. – Focco Neverding. Er war wohl etwas müde, aber, mein Gott, er war dreiundachtzig Jahre alt!»
    «Vor zwei, drei Wochen?» Der Gerichtsmediziner nickte. «Dann sagt Ihr Bekannter die Wahrheit. Da hat dieser Mann mit Sicherheit noch gelebt.»
    Ich starrte auf den gruseligen Torso im Lehnstuhl, auf den Schädel am Boden. Zumindest den Schädel hätte ich schon vor einer Dreiviertelstunde am liebsten mit irgendwas zugedeckt, hatte aber gewusst, dass Martin Euler mir das nie verziehen hätte. Die Auffindungssituation. Selbst wenn der Kopf schon daneben lag …
    Aber er lag nun mal daneben, und der Rest war ebenso eindeutig.
    «Martin, ich bin nicht erst seit gestern dabei», sagte ich. «Ich hab mir schon eine ganze Reihe von solchen Objekten ansehen dürfen. Und dieses hier ist schon eine ganze, ganze Weile tot.»
    Er betrachtete mich – mit einem ganz ähnlichen Blick wie demjenigen, mit dem er die Made betrachtet hatte – und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.
    «Dasselfliegen», sagte er.
    Ich hob die Augenbrauen. «Was ist das?»
    «Sie wurden früher oft als Bremsen bezeichnet, wobei es sich nicht um echte Bremsen handelt. Dasselfliegen sind sehr spezialisiert. Auf bestimmte Körperregionen – Nase, Rachen – oder bestimmte Tierarten. Der Mensch ist fast immer ein Fehlwirt. Sie nehmen ihn nur sehr ungern an.»
    «Hat sie hier nicht gestört», murmelte ich. «Tot ist tot.»
    Martin Euler schüttelte ganz langsam den Kopf. Irgendetwas war mit ihm. Er war anders als sonst. Ich arbeitete seit Jahren mit diesem Mann zusammen und kannte nicht einen unter unseren Gerichtsmedizinern, der sich das Schicksal seiner Objekte so zu Herzen nahm wie er.
    Er war blass, ja. So blass, wie ich ihn zuletzt im
Fleurs du Mal
erlebt hatte, doch da war noch etwas anderes. Eine ungesunde Hektik, eine Unruhe, die nicht zu Martin Euler passte.
    «Es gibt ein Detail, das die Dasselfliege von nahezu allen anderen Insekten unterscheidet», erklärte er, sichtlich darum bemüht, so exakt wie möglich zu bleiben. «Totes Gewebe ist uninteressant für die Ablage ihrer Brut.»
    Ich starrte auf die an den Lehnstuhl gefesselte Leiche. «Aber …»
    «Er
ist
tot», murmelte Euler. «Richtig.»
    Präzise diagnostiziert, dachte ich. Es lebe die Gerichtsmedizin.
    «Aber noch nicht sehr lange», erklärte der blonde Mann. «Ein, zwei Tage vielleicht. Und selbst das stellt streng genommen wohl eher ein Versehen dar.»
    «Was?»
    «Aus Madenperspektive zumindest. Die Maden haben schließlich ein unmittelbares Interesse daran, dass der Wirt möglichst lange am Leben bleibt. Nur so lange können sie sich von ihm ernähren. Wenn wir uns den Grad der Schädigungen ansehen, ist allerdings nachvollziehbar, dass der Wirt letztendlich verstorben ist.»
    «Letztendlich?» Ich starrte den Leichnam an. «Das heißt, er war am Leben,
während
sie …»
    «Ja.» Er nickte knapp. «Zuerst kamen die Maden. Daran ist er gestorben. Und es ist absolut untypisch, dass die Dasselfliege ein einzelnes Individuum in einer solchen Zahl

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