Ich bin der Herr deiner Angst
uns gerne mit Ihnen unterhalten.»
Die Erinnerung an das heruntergekommene Gelände am Bostelbecker Hauptdeich drängte sich mit Gewalt in meine Erinnerung. Auch Wolframs Tür war uns verschlossen geblieben. Der einzige Beweis, dass im Wohnmobil etwas lebte, war der grauenhafte Laut gewesen, der kaum menschlich geklungen hatte.
Hier herrschte nichts als Schweigen.
Ich kletterte neben die Polizeipräsidentin auf die Veranda. Matthiesen und Lehmann warteten am Fuße der Treppe. Nils Lehmanns Frisur schien noch eine Spur bizarrer zu Berge zu stehen als gewöhnlich.
Die Polizeipräsidentin legte ein Ohr gegen das Holz. «Herr Neverding?»
Der letzte Versuch, eindeutig.
«Wir kommen jetzt rein», sagte Lorentz lauter, und diesmal hörte ich das Zittern in ihrer Stimme.
Sie drückte die Klinke.
Nicht abgeschlossen.
Ein unterdrücktes Schaben – kein Quietschen.
Halbdunkel, ein Geruch, der sich kaum vom feuchten Laub unter den Bäumen unterschied: dunkel, organisch. Doch schließlich war auch die Hütte selbst kaum von ihrer Umgebung zu unterscheiden.
Sogar der Teppich, eine Art Fußmatte hinter der Türschwelle, fühlte sich an wie Waldboden.
«Herr Neverding?»
Die Polizeipräsidentin machte zwei Schritte in den Raum. Soweit ich erkennen konnte, nahm er das gesamte Innere der Behausung ein.
Ich war direkt hinter ihr, versuchte mich neben sie zu schieben.
Meine letzte Trainingsstunde im waffenlosen Kampf lag zweifellos kürzer zurück als bei ihr.
Ein gemauerter Kamin, verschiedene rustikale Sitzgelegenheiten. Ein gepolsterter Sessel …
Die Gestalt war so klein, dass ich sie im ersten Moment gar nicht gesehen hatte.
Eine Wolldecke lag über Neverdings Beinen, seine Arme auf den Sessellehnen.
«Herr Neverding?»
Eine Bewegung in seinem Gesicht. Ich atmete auf.
«Herr Neverding?» Isolde Lorentz streckte die Hand nach seiner Schulter aus …
Tausend Dinge geschahen gleichzeitig.
Die Polizeipräsidentin berührte vorsichtig den Oberarm des Mannes. Neverding schien sich zu regen, sein Oberkörper beugte sich ihr entgegen …
In diesem Moment hatte Matthiesen – oder Lehmann – den Lichtschalter gefunden. Gelbes Licht von der Decke.
Neverding beugte sich vor und …
Ein Poltern. Ein Gegenstand, der direkt vor meinen Füßen auf den Boden schlug.
Ein Schrei. Lorentz stolperte rückwärts.
Das Etwas zu meinen Füßen, noch immer in Bewegung, handballgroß, gräulich fahl, jetzt kam es zum Liegen.
Ein Kopf.
Eine verzerrte Fratze, verweste Haut, Larven in wimmelnder Bewegung. Die Lippen von den Zähnen zurückgezogen. Die Augen …
Keine Augen.
Ein Hundertfüßler wand sich Glied für Glied aus einer der Augenhöhlen und verschwand in den Fugen des roh gezimmerten Fußbodens.
***
«Jetzt halten Sie doch bitte etwas mehr Abstand!» Martin Euler bewegte kaum die Lippen, während er die Sonde in die Bauchhöhle des Toten einführte. «Bei diesem Zustand des Objekts kann der geringste Fehler verhängnisvolle Folgen haben.»
Verhängnisvolle Folgen? Ich lehnte an der holzverkleideten Wand und betrachtete die Szene wie von weit, weit weg. Eine an einen Sessel gefesselte Leiche im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung. Der Schädel lag drei Meter entfernt auf dem Boden. Sonderlich viel an Verhängnis fiel mir nicht ein, das noch auf Focco Neverding lauern konnte.
«Das ist unmöglich», flüsterte die Polizeipräsidentin – nicht zum ersten Mal in der vergangenen Dreiviertelstunde, die wir auf das Eintreffen unseres Gerichtsmediziners gewartet hatten. «Das ist unmöglich. Einer der ehemaligen Kommilitonen hat ihn vor vierzehn Tagen noch gesehen – lebendig!»
Ich riss mich zusammen. Ganz gleich, was hier vorging, ganz gleich, ob diese Frau meine oberste Vorgesetzte war: Ich war die ermittelnde Beamtin.
«Geben Sie mir seinen Namen?» Ich tastete nach meinem Notizblock.
Isolde Lorentz starrte mich an und schien nicht zu begreifen.
«Er könnte ein wichtiger Zeuge sein», erklärte ich.
Die Frau schüttelte sich. «Nein … nein, unmöglich … Er würde nie …»
«Die Kommissarin meint einen
Zeugen
-Zeugen», kam mir Nils Lehmann zu Hilfe. «Keinen
Dringend-Tatverdächtigen
-Zeugen.»
«Guido Haverkamp», murmelte Lorentz. «Vom Vorstand der Handelskammer. Er war mit seiner Frau hier.»
«Hier in der Hütte?», fragte ich nach.
Die Polizeipräsidentin nickte stumm. Ihre Frisur hatte sich längst in etwas verwandelt, das aussah wie ein Vogelnest.
«Auf jeden Fall müssen
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