Ich bin der Herr deiner Angst
verfluchte, die wir auf dem Waldparkplatz voller idyllischer Schlaglöcher hinter dem Fürst-Bismarck-Museum warten mussten. Jede Minute, die ich Zeit zum Grübeln hatte.
Die Polizeipräsidentin konnte im Stau stecken. Genauso gut war es möglich, dass sich in genau diesen Minuten sämtliche Beweise am Stammsitz der Neverding Holding in Luft auflösten.
Aber hätte das nicht so oder so passieren können, nachdem wir einmal mit dem alten Herrn gesprochen hatten? Schließlich hatten wir keinen Durchsuchungsbefehl.
«Vierunddreißig», seufzte Lehmann.
Warum zur Hölle rief Albrecht nicht an?
Natürlich:
Ich
hatte die Leitung. Aber der Punkt, den wir jetzt erreicht hatten … Neverding … Das fühlte sich einfach ein bis zwei Nummern zu groß an für mich.
Und mit Matthiesen und Lehmann konnte ich das Für und Wider meines Vorgehens unmöglich diskutieren. Autoritätsspielchen. Für Jörg Albrecht war das nie ein Problem: Er war der Chef. Kein Mensch konnte das in Frage stellen. Doch ich kannte die Situation nur zu gut, wenn Faber oder Matthiesen vertretungsweise die Leitung hatten. Alle paar Minuten kam einem der Gedanke:
Das
würdest du jetzt anders machen. Und ich selbst …
Du bist eine Frau, dachte ich. Die einzige in der Mannschaft seit Kerstins Tod. Und wenn Max Faber und die anderen Kerle sich tausend Mal für emanzipiert hielten:
Niemand
sollte mir erzählen, dass sie diesen Umstand vollständig aus ihren Hirnen gelöscht hatten.
Und wenn das Video, dieses gottverfluchte Video …
Nils Lehmann holte Luft.
«Halt – den – Mund!», knirschte ich.
Ein Blinzeln. Er legte den Kopf auf die Seite.
Motorengeräusch.
Ich beugte mich zum Seitenspiegel.
Ein dunkler BMW . Ein Privatfahrzeug, doch die grotesk toupierten roten Haare waren unverkennbar.
Ein Knacksen in meiner Rippengegend, als ein Teil der Anspannung von mir abfiel.
Die Polizeipräsidentin stieg aus dem Wagen, klappte eine nachtschwarze Sonnenbrille zusammen und steckte sie in die Brusttasche ihres Hosenanzugs. Darüber trug sie eine Jack-Wolfskin-Jacke, die ich ihr nicht zugetraut hätte.
Mit raschen Schritten kam sie auf uns zu, während wir selbst noch ins Freie kletterten.
«Danke», sagte sie knapp – in meine Richtung. Die beiden Männer nahm sie kaum zur Kenntnis.
Ich hob die Schultern. «Wenn wir ins Firmengebäude marschiert wären, und er ist gar nicht da, wäre das kaum in die richtige Richtung gegangen.»
Lorentz verzog das Gesicht. «Sie hätten überhaupt nicht erfahren, ob er da ist, weil Sie in diesem Unternehmen ohne richterliche Anordnung nicht mal an der Rezeption vorbeigekommen wären.»
Ihr Blick löste sich von mir, schweifte über den Parkplatz. Kein einziges Fahrzeug zu sehen mit Ausnahme unserer beiden Wagen. Ende Oktober war die Schmetterlingssaison vorbei.
Ein geschotterter Spazierweg. Rechter Hand ging es zu den Schmetterlingen, linker Hand in Richtung Wald.
Lorentz bog nach links. Hundert Meter, zweihundert. Wir folgten ihr stumm. Jetzt Wald, auf beiden Seiten.
«Da drüben», murmelte die Polizeipräsidentin.
Erst als ich ganz genau hinschaute, sah ich die Lücke im Gebüsch.
Isolde Lorentz ging schnurstracks auf diese Lücke zu und duckte sich unter den Zweigen durch, ohne groß darauf zu achten, ob ihr frisurtechnisches Wunderwerk dadurch in Gefahr geriet.
Ein Loblied auf die Haarspange, dachte ich, als ich ihr folgte und Nils Lehmann hinter mir schimpfen hörte.
Ein Waldweg, schnurgerade, gesäumt von einer planmäßig angelegten Allee. Der Boden bedeckt mit totem Laub: Eichenblätter, leuchtendes Rot, sattes Gold, vereinzelt letztes stumpfes Grün.
Dass etwas, das tot ist, so schön sein kann, fuhr mir durch den Kopf.
Ein Herbstgedanke, ein Ende-Oktober-Gedanke. Dass wir seit Tagen von einer Leiche zur nächsten stolperten, machte ihn nicht weniger morbide.
Wobei mir nicht viel Zeit für Grübeleien blieb. Die Polizeipräsidentin schien zu wissen, wohin sie wollte: immer geradeaus.
Ich schloss zu ihr auf.
«Nach allem, was ich weiß, ist Focco Neverding seit Monaten nicht mehr im Büro gewesen», sagte sie mit gedämpfter Stimme. Zehn Meter hinter uns raschelten Matthiesen und Lehmann wortlos durchs Laub. «Wir haben uns früher häufiger gesehen – um die Stipendiaten hat er sich immer ganz besonders gekümmert. Zwei Mal im Jahr gab es ein Treffen in seiner Waldhütte. Er wollte in allen Einzelheiten wissen, was wir für Fortschritte machten.» Sie warf mir einen Blick zu. «Mir
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