Ich bin der Herr deiner Angst
unser Whiteboard geschrieben:
Wer?
und
Warum?
Beide gehören zusammen, wobei Sie vermutlich …»
«In der Wissenschaft wird die Warum-Frage immer Priorität haben.» Der Traumfänger nickte.
Albrecht neigte bestätigend den Kopf. «Ich glaubte die Antwort auf diese Frage erkannt zu haben. Das Schema schien eindeutig, die Auswahl der Opfer. Sie alle hatten mit ein und demselben Fall zu tun …»
Diesmal hob der Psychologe beide Augenbrauen. Warnend.
«Dem sogenannten Traumfänger-Fall», erklärte der Hauptkommissar. «Dem Sie möglicherweise schon einmal begegnet sind bei Ihrer wissenschaftlichen Lektüre.»
«Möglicherweise», sagte Maximilian Freiligrath ruhig. «Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen, Herr Albrecht.»
«Das ist mir bewusst», erwiderte Jörg Albrecht in exakt demselben Tonfall. «Doch mittlerweile ist mir ohnehin klar geworden, dass ich mich hier getäuscht habe.» Eine Kunstpause, Gelegenheit für den Traumfänger, einen Einwurf zu machen.
Freiligrath schwieg und betrachtete den Hauptkommissar mit einem Gesichtsausdruck, der nur als lauernd zu bezeichnen war.
«Der Zusammenhang, den ich hergestellt habe, erklärt möglicherweise die Auswahl der Opfer», sagte Albrecht. «Aber die Motivation des Täters zu begreifen, bin ich keinen Schritt weitergekommen. Und damit versteht sich meine Frage von selbst: Ein Mensch, der seine Opfer unter den Beteiligten an einer zurückliegenden Ermittlung auswählt, sie unter angstbeladenen Umständen zu Tode bringt. Ein Mensch, der mit ausgestrecktem Finger auf dieses vergangene Verbrechen deutet: Was treibt ihn an? Wie könnte das Motiv eines solchen Menschen aussehen? Erzählen Sie mir, was für ein Mensch mein Täter ist!»
Ganz langsam glitt die Hand des Traumfängers in seine Kitteltasche und brachte das Zigarettenetui zum Vorschein.
«Ja, doch …» Mit einer eleganten Bewegung zündete sich der Psychologe eine Zigarette an. «Herr Albrecht, ich denke, das ist eine Basis, auf der wir arbeiten können.»
***
Halb fünf Uhr nachmittags.
Die Fahrt vom Sachsenwald quer durch den Süden der Stadt war eine ganz eigene Sorte Albtraum gewesen. Was dicht sein konnte, war auch dicht gewesen, inklusive jeder einzelnen Ausweichstrecke, die ich wie jeder Hamburger kannte.
Eine Menge Leute verbanden mit dem Wort Ausweichstrecke anscheinend die Straße an der Kleingartenkolonie. In der Gegenrichtung schob sich der Verkehr Stoßstange an Stoßstange an mir vorbei, als ich den Dienstwagen am Gelände des Energieerzeugers abstellte.
Alle auf der Durchreise.
Auf dem Betriebshof stand nur eine Handvoll Fahrzeuge. Die Parkplätze an der Straße selbst waren leer.
Ich legte die Stirn in Falten.
Mindestens ein Fahrzeug hätte hier seit gut vierundzwanzig Stunden die Stellung halten müssen.
Unsere Zivilstreife.
Im selben Moment, in dem ich die Fahrertür zuschlug, ertönte ein Hupen in meinem Rücken. Ein Motor, der aufheulte.
Ich fuhr herum.
Ein dunkler Audi. Er scherte auf die Gegenspur, am vorankriechenden Verkehr vorbei und raste direkt auf mich zu.
Ich stolperte zurück, wusste aber im selben Moment, dass ich nicht schnell genug sein würde.
In letzter Sekunde vollführte der Wagen ein riskantes Manöver und kam knapp hinter meinem Dienstfahrzeug zum Stehen.
Die Beifahrertür flog auf. Ein Mann.
Ich kannte das Gesicht.
Kempowski. Einer unserer Streifenbeamten. An die Visage auf dem Fahrersitz glaubte ich mich ebenfalls zu erinnern.
«Es …» Kempowski schluckte. «Tut mir leid, Frau Kommissarin. Warten Sie schon lange?»
Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn von oben bis unten. Die Ketchupspur auf seinem Hemd sprach eine verdammt deutliche Sprache.
«Tut mir leid», murmelte er. «Wir wollten sofort wieder da sein, echt! Wussten
Sie
, dass es den Kentucky Fried Chicken nicht mehr gibt?»
«Ja», knurrte ich.
Mehr würden die beiden von mir nicht zu hören kriegen.
Wenn nichts passiert war – ihr Glück. Ich war stinksauer auf das Gespann, aber anschwärzen würde ich die beiden nicht.
Vorausgesetzt, ihr Imbissausflug hatte keine Folgen gehabt.
Doch wenn Horst Wolfram irgendwas passiert war …
… dann würden wir möglicherweise Seite an Seite vor dem Disziplinarausschuss sitzen, sobald meine Verbindung zu Joachim Merz publik wurde.
Ich drehte mich wortlos um und bog hinter dem Abwassergraben auf die Industriebrache ein.
Stapel von Autoreifen, halb überwucherte Berge von Kies
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