Ich bin der Herr deiner Angst
Zeugen. Als Vertretern der Öffentlichkeit. Dieser Gedanke, wie gesagt, ist sehr, sehr alt. Der Straftäter sühnt seine Vergehen vor den Augen der Öffentlichkeit, gegen deren Normen er verstoßen hat. In alter Zeit, als öffentliche Hinrichtungen wahren Volksfesten glichen, mit Tribünen für die besten Plätze, war dieser Aspekt noch weit stärker ausgeprägt.»
«Der geifernde Mob, der sich über die Leiden eines Menschen amüsiert», murmelte Albrecht.
«Selbstverständlich sind wir heute zivilisierter», bemerkte Freiligrath mit spitzen Lippen. «Wir beschränken uns auf die Live-Berichterstattung von Bürgerkriegen, auf vermeintlich Prominente, die im Dschungel Würmer fressen, auf Reportagen von Autorennen. Besonders beliebt ist der Start, habe ich mir sagen lassen, weil es da die meisten Unfälle gibt. Auch dieses psychische Prinzip, Herr Albrecht, ist universell. Wobei die moderne Zerstreuung nicht jenen lehrreichen Aspekt in sich trägt wie der altertümliche Strafvollzug, der eben deutlich machte: Der Gerechtigkeit wird Genüge getan. Die Schuld wird bezahlt, unter dem Beil des Henkers und vor den Augen der Öffentlichkeit.
Oder noch früher, vor den Zeiten der institutionalisierten Strafverfolgung, durch die persönliche Vergeltung. Die Rache. Und genau da sind wir auf dem Punkt.»
Albrecht kniff die Augen zusammen. «Sie wollen sagen: Unser Täter nimmt Rache?»
«Ich will sagen, dass, durch eine psychologische Brille betrachtet, die einzelnen Aspekte darauf hindeuten: Die Taten verweisen auf einen Vorgang, bei dem Existenzen vernichtet wurden. Ein sehr starker Antrieb für einen Vergeltungsmechanismus. Und sie werden deutlich sichtbar vor den Augen der Öffentlichkeit begangen: Wie wir gesehen haben, ist dies ein wichtiger Bestandteil des Vergeltungsgedankens. Zudem sind die Taten von ausgesuchter Grausamkeit. Wie dieser Umstand zu gewichten ist, müssen Sie selbst beurteilen.»
«Aber …» Jörg Albrecht starrte den Psychologen an.
Warum sind Sie dann noch am Leben?
Er biss die Zähne aufeinander.
Rache. Vergeltung.
Der Mann, der ihm gegenübersaß, hatte siebzehn Menschen auf dem Gewissen – achtzehn, nein, neunzehn, wenn man Horst Wolfram einschloss, der so gut wie tot war, und seine Frau, die sich den Strick genommen hatte.
Siebzehn, achtzehn, neunzehn Gründe für Rache.
Dass der Traumfänger verurteilt war, seine Strafe abgebüßt hatte und nun in der Sicherungsverwahrung saß, spielte dabei eine untergeordnete Rolle.
Einem zu allem entschlossenen Rächer, einem Hinterbliebenen eines der Opfer würde das schwerlich genügen.
Albrecht schüttelte den Kopf.
Er beging denselben Denkfehler, den schon Friedrichs begangen hatte, auf ihrer gemeinsamen Fahrt nach Königslutter: Die Taten hatten nicht Max Freiligrath zum Ziel.
Im Gegenteil: Sämtliche Opfer ihrer aktuellen Ermittlung hatten eine Rolle gespielt, als Freiligrath überführt und verurteilt worden war.
Was aber sollte dann gerächt werden?
«Das Urteil», murmelte Albrecht. «Wenn das Motiv der Taten Rache war, kann es sich nur um Rache wegen des Urteils handeln. Rache für die Verurteilung des …» Seine Augen wanderten zu Freiligrath. «… des damaligen Täters. –
Unser
Täter handelt im Interesse des
damaligen
Täters.» Wieder schüttelte er den Kopf. War das nicht von Anfang an klar gewesen?
War es das wirklich?
Wieder hatte er einen Fehler gemacht.
Plötzlich hatte der Name Freiligrath im Raum gestanden, mächtig, einschüchternd, überlebensgroß – und schon hatte Jörg Albrecht aufgehört, nach dem Motiv zu fragen.
Freiligraths Blick lag auf ihm. Aufmerksam, wie es einem wissenschaftlichen Gespräch nur angemessen war.
«Tut er das?», erkundigte sich der Traumfänger. «Handelt Ihr Mörder im Interesse des damals verurteilten Täters?»
Albrecht kniff die Augen zusammen. «Natürlich, er …»
Er brach ab und betrachtete den Mann. Rache – war das eine Motivation, die zu Maximilian Freiligrath passte, diesem distinguierten älteren Herrn in seinem hellblauen Psychologenkittel?
Schwer vorstellbar. Doch Freiligrath war schon immer ein Meister der Verstellung gewesen.
Dennoch, da war ein Element, das diese Möglichkeit ausschloss.
«Der Prozess», sagte Albrecht. «Der … Angeklagte hat das Urteil ohne weiteres akzeptiert.»
«Wenn ich mich recht erinnere – an meine Streifzüge durch die Literatur –, hat er es geradezu
begrüßt
», bemerkte Freiligrath. «Warten Sie … Ich glaube,
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