Ich bin der Herr deiner Angst
Irmtraud, das wusste ich. Sie hatte all die Jahre den Kontakt zu ihm gehalten.
Wenn ich Irmtraud ins Vertrauen zog und dann mit ihr zu ihm …
Keine Zeit dazu!
Wieder kam es wie ein Blitz. Vielleicht war es ja tatsächlich die berühmte kriminalistische Intuition.
Ich hatte keine Zeit, mir Hilfe von Irmtraud zu holen.
In genau diesem Moment …
Du spinnst! Die letzten Tage, das war einfach zu viel.
Gleichgültig, was es war, doch mit einem Mal wusste ich, dass ich keine Sekunde zu verlieren hatte. Keine einzige.
Die heruntergekommene Gegend am Bostelbecker Hauptdeich.
Das Wohnmobil.
Horst Wolfram.
Ich brauchte drei Versuche, bis der Motor ansprang.
Isolde Lorentz’ BMW blieb allein zurück.
Bitte, dachte ich. Alles, nur jetzt keine Polizeikontrolle.
Kein Mensch wird dir glauben, dass du nichts genommen hast.
***
Wieder in Königslutter.
Wieder in Freiligraths Patientenzimmer, das einer psychologischen Praxis zum Verwechseln ähnlich sah.
Nein, Jörg Albrecht hatte sich nicht auf der Psychologencouch ausgestreckt. Eine letzte Grenze, die zu überschreiten ihn nichts und niemand bewegen würde. Ganz gleich, wie viele Leben auf dem Spiel standen.
Boss! Boss, ich hab dich! … Verdammt!
Ein Echo in seinem Kopf. In seiner … seiner
Seele
?
Es war das erste Mal, dass er einem Menschen die gesamte Geschichte erzählte. Selbst Joanna hatte niemals mehr zu hören bekommen als Andeutungen.
Von ihm zumindest. Er war sich fast sicher, dass seine Schwester ihr mehr über das Ende der Spinnenbande berichtet hatte, von Frau zu Frau.
Ihn aber hatte Joanna niemals gedrängt, darüber zu reden. Es gab einen inneren Selbstbehalt, tief in einem jeden Menschen. Joanna hatte akzeptiert, dass diese nicht zu heilende Wunde da war und sie niemals berührt.
Wie hatte er diese Frau geliebt …
Er hatte sie verloren.
Und all die Jahre hatte er über David Martenbergs Tod geschwiegen.
Bis heute.
Er erzählte, berichtete stockend wie jemand, der Mühe hatte, sich an die genaue Abfolge der Geschehnisse zu entsinnen, obwohl das exakte Gegenteil der Fall war. Jedes kleinste Detail war deutlich, gestochen scharf in seiner Erinnerung, konserviert unter dem undurchdringlichen Mantel seiner Schuld.
Er war der Boss gewesen.
Er hatte die Verantwortung getragen.
Doch er hatte zugelassen, dass Sven, Jens und Uwe den Weidenast zu ihm herunterzogen. Er hatte sich der Liane anvertraut – und der Baumstamm hatte nachgegeben.
David Martenberg, der Kleinste und Schwächste von ihnen, hatte ihn gerettet.
Und war dafür gestorben.
Jörg Albrecht erzählte die vollständige Geschichte. Er ließ nichts aus, kein Gefühl, keinen Gedanken.
Der Traumfänger hätte auf der Stelle erkannt, wenn er das getan hätte, und außerdem …
Außerdem war er es David Martenberg schuldig. Und sich selbst.
Dr. Max Freiligrath saß an seinem Schreibtisch, mehrere DIN -A4-Bögen vor sich, auf denen er sich Notizen machte.
Doch die meiste Zeit waren seine Augen auf Albrecht gerichtet.
Es war kein triumphierender Blick. Nicht der kalte, herrische Blick des verurteilten Mörders.
Max Freiligrath war Psychologe.
Nicht mehr und nicht weniger.
Schließlich schloss Jörg Albrecht die Augen.
«Sven ist dann nach Hause gelaufen», sagte er leise. «Der Hof seiner Eltern war der nächste. Die beiden anderen haben mich währenddessen aus dem Wasser gezogen, zurück auf … auf die Seite mit der Weide. Und dann kamen die Erwachsenen. Davids Mutter, sie … sie hat andauernd geschrien. Sie konnte nicht mehr aufhören. Die Familie ist ein paar Monate später weggezogen, doch bis dahin … Die Leute meinten, sie hätte nur noch geflüstert. Ihre Stimme ist einfach nicht zurückgekommen.»
Freiligrath notierte etwas.
«Und dann haben Sie die Leiche gesehen? David Martenbergs Körper?»
Jörg Albrecht nickte. Eine krampfartige Bewegung.
«Er sah nicht so schlimm aus, wie ich gedacht hatte.» Er räusperte sich. Noch einmal. «Kein Blut. Weil er im Wasser gelegen hatte. Sein Kopf hatte eine irgendwie seltsame Form – wie flach geklopft. Ich habe gedacht …» Er holte Luft. «Im ersten Moment hab ich gedacht: Das ist nicht David. David muss noch da unten sein. Das ist ein Außerirdischer in Davids Klamotten.»
Der Mann am Schreibtisch nickte verstehend. Der Füllfederhalter kratzte auf dem Papier.
«Was hat er für ein Gesicht gemacht?», erkundigte sich Freiligrath.
«Was für ein …» Albrecht schüttelte sich. «Er sah nicht aus,
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