Ich bin der Herr deiner Angst
von den Taten, auf die er sich bezieht, unterscheidet.»
«Richtig. Weil sich die Taten selbst unterscheiden. Wenn ich die
Literatur
korrekt in Erinnerung habe, bestand der Hintergrund der damaligen Taten in einem wissenschaftlichen Experiment.»
Jörg Albrecht glaubte sich zu erinnern, dass man Schizophrene keinesfalls in ihrem Wahn bestärken sollte.
Er hielt den Mund.
«Das ist hier augenscheinlich nicht der Fall», stellte Freiligrath fest. «Stattdessen fällt der Aspekt der Öffentlichkeit ins Auge. Unser Täter hat der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen. Er hat eine Botschaft. Die Herausforderung für uns besteht darin, seine Sprache zu verstehen. Der Mechanismus, der uns hier begegnet, ähnelt in mancher Hinsicht demjenigen, mit dem sich Angehörige und Therapeuten auseinandersetzen müssen, die mit einem Suizidversuch konfrontiert werden. Die wenigsten vermeintlichen Suizidversuche haben tatsächlich eine Selbsttötung zum Ziel. Weit häufiger stellen sie einen Hilfeschrei dar.»
«Mit dem fundamentalen Unterschied», unterbrach Albrecht, «dass unser Täter seine Gewalt nicht gegen sich selbst richtet. Selbstmord ist kein Verbrechen – Mord sehr wohl. Das schwerste Verbrechen, das unsere Rechtsordnung kennt.»
«Korrekt», bestätigte Freiligrath. «In
unserer
Zeit. In
unserer
Gesellschaft.» Er löste seine Hände voneinander und legte sie auf dem Knie übereinander. «Für psychische Phänomene sind die juristischen und moralischen Begrenztheiten unseres Hier und Jetzt aber höchstens im Einzelfall von Bedeutung. Wir
glauben
, in einer freien und modernen Gesellschaft zu leben, in der Aberglaube und archaische Prinzipien keine Rolle mehr spielen. Doch entspricht das der Wahrheit? In der römisch-katholischen Kirche gilt Selbstmord nach wie vor als Todsünde, und das Prinzip der Ehre …»
«Mit Ehrenmorden hatten wir in Hamburg in den letzten Jahren mehrfach zu tun», unterbrach ihn Albrecht. «Richtig. Doch diese Taten beschränken sich regelmäßig auf das Einwanderermilieu. Wo sollte da die Verbindung liegen? Weder bei den damaligen noch bei den heutigen Opfern gab es einen Migrationshintergrund.»
Der Traumfänger schwieg, blickte auf seine Hände. Schließlich schüttelte er bedauernd den Kopf.
«Sie denken zu kurz, Herr Albrecht. Und Sie hören mir nicht zu.
Im Übrigen habe ich nie behauptet, dass das Prinzip der Ehre für unseren Täter eine Rolle spielt. Ich wäge lediglich unterschiedliche Mechanismen ab, die auf unseren Fall zutreffen könnten – oder nicht. Was ihnen gemein ist, ist das archaische Element.
Unsere Gesellschaft
hält
sich für modern. Doch bedeutet das, dass ältere Prinzipien keinen Platz mehr haben? Ein Familienvater, der vor dem wirtschaftlichen Ruin steht und seine Familie mit in den Tod nimmt? Ein Ehemann, der seine Frau erschießt, weil sie droht, ihn zu verlassen? Was anderes steht im Hintergrund als das archaische Prinzip der Ehre?»
Der Hauptkommissar zögerte, nickte dann aber widerwillig.
«Wobei wir den Begriff der Ehre vielleicht etwas moderner übersetzen könnten», bot Freiligrath an. «Als gesellschaftliche Anerkennung. Und ähnlich verhält es sich mit einem anderen Begriff. Dem Gedanken der Vergeltung.»
Albrecht hob die Augenbrauen. «Rache?»
«Wenn das für Sie moderner klingt? Das Prinzip ist ähnlich archaisch, und in ganz ähnlicher Weise spielt die Gesellschaft – die Öffentlichkeit – eine entscheidende Rolle.»
«Einspruch!»
Der Traumfänger blinzelte.
«Ehre ist etwas, das man hat oder nicht hat», erklärte Albrecht. «Wer sich ehrenhaft verhält, tut das nicht, um vor der Öffentlichkeit ein gutes Bild abzugeben, sondern weil er … weil es eben ehrenhaft ist.»
Der Gedanke auf Wiedervorlage. Das war ein Gegenstand, den er mit Heiner Schultz erörtern musste.
Freiligrath betrachtete ihn nachdenklich, nickte dann. «Ich stimme Ihnen zu. Was sich nun aber beim Prinzip der Vergeltung – in ihrer ursprünglichen Ausprägung – anders verhält. Wie sieht moderner Strafvollzug aus, Herr Albrecht?» Seine Mundwinkel zuckten. «Richtig, ich sollte mir ein recht gutes Bild machen können. Unsere Gesellschaft sperrt ihre Straftäter weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. In den Vereinigten Staaten hingegen, wo noch der Gedanke des
capital punishment
existiert, werden die Delinquenten vom Leben zum Tode befördert, unter klinisch exakten Umständen zwar,
aber
…» Er hob eine Hand, um die Aussage zu unterstreichen. «… vor
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