Ich bin der Herr deiner Angst
als würde er schlafen. Das hatte ich immer gedacht. Wenn Leute tot sind, hatte ich gedacht, sehen sie aus, als würden sie schlafen. Aber seine Augen waren offen. Er sah … Irgendwie sah er total überrascht aus. Als könnte er einfach nicht fassen, dass er jetzt tot sein sollte. Und seine Augen … Da war überall Wasser.» Seine Stimmte versagte. «Er … Er sah aus, als hätte er geweint.»
Ein kurzes Zögern, eine letzte Notiz.
Ein Klicken, als Max Freiligrath sorgfältig seinen Füllfederhalter verschloss.
«Sehr schön», murmelte er. «Sehr schön, Herr Albrecht. Ich denke, das wird uns weiterhelfen.»
Jörg Albrecht fühlte sich vollständig leer. Er nickte mechanisch.
Er hatte es getan. Max Freiligrath hatte gewonnen.
Der Hauptkommissar hatte ihm die Geschichte seines ersten Toten erzählt.
Die Geschichte seiner größten Angst.
Die Grenze. Die Grenze zwischen den Welten. Er hatte sie aus eigener Entscheidung und in vollem Wissen überschritten.
Ein Handel.
Er hatte dem Meister der Angst seine größte Angst anvertraut.
Noch einmal holte Jörg Albrecht Luft, dann öffnete er die Augen.
Dämmerung hing vor den Fenstern. Gegen drei Uhr nachmittags waren sie an der Klinik angekommen. Maja Werden wollte an der Rezeption auf ihn warten, wie sie das auch heute Morgen getan hatte.
Drei Uhr nachmittags. Inzwischen musste es fünf sein.
Max Freiligrath musterte ihn aufmerksam. Seine Hände lagen ineinandergefaltet auf dem Schreibtisch.
Der Hauptkommissar erwiderte den Blick. Lange. So lange, bis der Traumfänger lächelnd die Augen wieder seinem Blatt zuwandte.
Ich muss seinen Blick nicht mehr fürchten, dachte Jörg Albrecht. Und er weiß das. Es gibt für ihn nichts Interessantes mehr in mir zu lesen.
Er kennt meine größte Angst.
«Ich habe Ihre Frage beantwortet», sagte Albrecht sachlich.
Freiligrath sah auf und nickte zustimmend.
«Es war eine große Frage», betonte Albrecht. «Und eine große Antwort.»
Wieder: Nicken.
«Und damit habe jetzt ich das Recht zu einer neuen Frage, richtig? Solange dadurch nicht Sie ins Zentrum des Bildes rücken. Oder Ihre Experimente. Und solange unser Gespräch wissenschaftlich bleibt.»
Ein drittes Mal.
Albrecht schloss den Mund.
Atme durch die Nase! Ganz ruhig! Überlege dir jedes Wort! Du hast eine einzige Chance.
Doch die wirst du auch bekommen.
So irrsinnig diese Vorstellung auch war, doch Jörg Albrecht war sich hundertprozentig sicher: Auf seine eigene, perverse Weise war der Traumfänger ein korrekter Mann.
Der Hauptkommissar hatte seinen Teil des Handels erfüllt, und er hatte einen hohen Preis bezahlt.
Das war das Entscheidende. Freiligrath hatte seinen Willen bekommen.
Irgendwo im Hintergrund lief ein gewaltiges Spiel. Der Traumfänger selbst konnte es nicht sein, der dort draußen, in Hamburg, in Braunschweig, im Sachsenwald die Spielfiguren zu Fall brachte – aber er hatte deutlich machen müssen, wer es war, der hier in diesem Raum die Regeln bestimmte.
Im Grunde war es fast gleichgültig gewesen, in welcher Frage sie ihre Kräfte gemessen hatten: Das Entscheidende war, dass Freiligrath gewonnen hatte.
Wenn Albrecht jetzt keinen Fehler machte, würde er seine Antwort bekommen.
Und er hatte nachgedacht. Seit dem Augenblick, in dem ihm klar geworden war, dass er nach Königslutter zurückkehren musste, hatte er nachgedacht.
Und ihm war klar geworden, dass er einen entscheidenden Fehler begangen hatte.
Er durfte Freiligrath nicht zu viel Raum geben.
Der Traumfänger bestimmte die Regeln, doch Jörg Albrecht musste es sein, der die Richtung vorgab.
Was ist es, das du wirklich wissen musst?
Wie lässt sich die Frage stellen, ohne die Regeln zu verletzen?
«Sie wissen etwas, Herr Dr. Freiligrath», begann der Hauptkommissar. «Es liegt in Ihrer Hand, meinen Ermittlungen die entscheidende Wende zu geben. Und Sie haben mir Hinweise gegeben, damit ich das begreife.»
Der Gesichtsausdruck des Psychologen war nicht zu deuten.
Doch wenn er darauf verzichtete, mit einem ironischen Spruch zu kontern, war das schon ein gutes Zeichen.
«Ja, meine Kollegen haben in unserem Sachverständigen gestochert. Und nein, ich denke nicht, dass ihre Ergebnisse uns voranbringen werden. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht mehr daran, dass sich der Fall auf diese Weise lösen lässt.»
Jetzt, um eine Winzigkeit, hob Freiligrath eine Augenbraue.
«Am Anfang …», murmelte Albrecht. «Am Anfang habe ich auf dem Kommissariat zwei Fragen an
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