Ich bin der Herr deiner Angst
gewiss nicht. Was ich getan habe, war, Sie über die Symptome einer Arsenvergiftung zu belehren. Und exakt dieses Missverständnis illustriert den Mechanismus, auf den es mir an dieser Stelle ankommt:
Sie sehen nicht die Dinge, wie sie in Wahrheit sind.
Sie sehen die Dinge in einer Form, von der Sie glauben, dass sie sich so verhalten.
Wir alle – als Menschen.»
Immerhin zählt er sich noch dazu, dachte Albrecht.
«Wir sehen nicht die Welt», erklärte der Traumfänger. «Sinneseindrücke, die unser Gehirn erreichen, werden dort nicht unmittelbar verarbeitet, sondern durchlaufen den Filter unseres Bewusstseins. Wobei ich dieses Bewusstsein besser als Schwamm beschreiben sollte, vollgesogen mit der Summe unserer Erfahrungen. Was wir wahrnehmen, ist eine Welt, die unser Bewusstsein für wahrscheinlich hält. Mehr nicht.
Ein Zustand übrigens, dem auch die Psychologie nicht abhelfen kann. Zumindest aber ist sie imstande, ihn uns wiederholt in Erinnerung zu rufen.»
«Dann bedanke ich mich, dass Sie das noch einmal getan haben», sagte Albrecht kühl. «Womit wir dann auf unsere Ermittlung kommen dürfen. – Vor vierundzwanzig Jahren wurde die Hansestadt Hamburg mit einer Serie von Verbrechen konfrontiert. Tötungsdelikten, auf deren Details ich hier nicht noch einmal eingehen muss, da sie uns allen bekannt sind. Die Leitung der damaligen Ermittlungen hatte Hauptkommissar Wolfram …» Ein Nicken zu dem älteren Mann. «Und sie waren erfolgreich. Der Täter konnte gefasst werden. Er war geständig, wurde verurteilt und befindet sich bis heute in Verwahrung.»
Warum wiederhole ich das alles?
Es war mehr als der Wunsch, die Initiative in die Hand zu bekommen.
Die nackten Fakten. Albrecht wurde immer klarer, dass er etwas Fundamentales übersehen hatte, und vermutlich hatte er den Punkt, an dem er noch hätte umkehren können, in dem Moment überschritten, in dem die Türen der geschlossenen Abteilung hinter ihm zugeschlagen waren.
Doch wenn der Traumfänger
jetzt
widersprach, eine dieser grundlegenden Tatsachen in Zweifel zog …
Nein, gelogen hatte Freiligrath nicht. Aber Jörg Albrecht war klar, dass dieser Mann ihn an irgendeinem Punkt gründlich hinters Licht geführt hatte.
Doch das würde nicht noch einmal geschehen.
Freiligrath hatte kein Interesse mehr daran.
Er hat uns ganz genau dort, wo er uns haben wollte, dachte Albrecht. Horst Wolfram und mich selbst.
Von nun an wird er die Wahrheit sagen – und nichts als die Wahrheit.
Maximilian Freiligrath hatte aufmerksam zugehört und nickte bestätigend.
Bis hierhin bestand Einigkeit.
«Nun erleben wir in den letzten Tagen eine Serie von Morden, die den damaligen Taten auf den ersten Blick ähneln», fuhr Albrecht fort. «Die Opfer – Ole Hartung, Kerstin Ebert, Margit Stahmke und Professor Hartmut Möllhaus – waren jeder auf ihre oder seine Weise an den damaligen Ermittlungen beteiligt. Sie haben dazu beigetragen, dass der Täter –
dieser
Täter – verurteilt werden konnte.»
Kein
zu
offensichtliches Nicken in Freiligraths Richtung, als er die Identität des Täters betonte.
Paul Schubert, den Kameramann, musste er nicht erwähnen. Der Mann war ein Zufallsopfer gewesen.
Und auch über Neverding schwieg er.
Neverding wollte er sich aufheben.
«Wer aber sollte ein Interesse daran haben, die Beteiligten einer erfolgreichen Ermittlung zu töten? – Der verurteilte Täter …» Diesmal sah er den Psychologen an. «… kommt nicht in Frage.»
Ein neues Nicken.
«Dr. Freiligrath und ich haben nun eine Theorie entwickelt. Unser Täter stammt aus dem Umfeld … möglicherweise sogar dem familiären Umfeld eines der damaligen Opfer. Er glaubt an ein Fehlurteil und …»
Jetzt hob der Traumfänger die Hand.
«Richtig. Ich habe Ihre These mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Eine alternative Schuldtheorie, die in der Tat manches erklären könnte. Doch sie bleibt einstweilen genau das: eine Theorie. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, zweifelsfrei zu klären, wie sich die Dinge in
Wahrheit
verhalten.
Das ist kaum zu erwarten. Ich persönlich bin Psychologe, kein Ermittler, und Sie, Herr Albrecht, waren mit dem Fall, in dem sich die Lösung zu verbergen scheint, niemals befasst. Das war die Aufgabe unseres Herrn Wolfram.
Ihm also müssen wir unsere Frage stellen.»
Ganz langsam drehte er den Kopf, und seine Stimme veränderte sich, wurde beinahe sanft. Eine angenehme Stimme. Eine Stimme, der man instinktiv
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