Ich bin der Herr deiner Angst
bekam er aus dem Augenwinkel mit, wie Isolde Lorentz aufstand und im Hintergrund mit einem Beamten tuschelte. Sie setzte sich wieder, bevor der Hauptkommissar fertig war.
«So weit unser Kommuniqué», übernahm der Pressesprecher. «Danke, Hauptkommissar Albers.»
Jörg Albrecht erlaubte sich die stille Hoffnung, dass einige der Journalisten diese Version seines Namens übernehmen würden.
«Sie haben nun die Gelegenheit, Fragen zu stellen.» Der Pressesprecher sah in die Runde.
Dutzende von Armen hoben sich. Der Mann am Mikrophon nickte in die erste Reihe.
«Maren Steinert, Morgenpost.» Eine adrette junge Dame stand auf. «Ich hätte eine Frage an Hauptkommissar Albers. – Ist es richtig, dass Sie verstärkt im persönlichen Umfeld von Kommissar Hartung nach der Täterin suchen?»
Albrecht zögerte. Streng genommen würde er nicht bestätigen, dass der Ermordete Ole Hartung hieß, wenn er den Satz beantwortete. Er schüttelte den Kopf. «Wir ermitteln in alle Richtungen.» Ein Standardsatz.
«Und ist es richtig …»
«Bitte nur eine Frage.» Der Pressesprecher schnitt ihr das Wort ab. «Danke. – Dort vorne in der zweiten Reihe?»
«Marc Hoffmann vom Abendblatt. Ich hätte eine Frage an die Frau Präsidentin.»
Die Frage war ein Klassiker, stellte Albrecht fest: Warum wurden sofort sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, sobald ein Polizeibeamter das Opfer war? War das nicht eine Ungleichbehandlung? Schließlich wurde die Polizei doch aus Steuergeldern finanziert, also müsste man da nicht …
Albrecht hörte nach der Hälfte des Lamentos weg. Exakt dieselben sensationsgeilen Pressegeier, die jetzt solche Fragen stellten, waren es, die Fälle wie den Tod Ole Hartungs zu einer Mediennummer aufpusteten und die Ermittler
zwangen
, Sonderschichten einzulegen. Natürlich würde der Tod eines Kollegen immer Vorrang haben – das war bei jeder Polizei der Welt so. Aber dem
erhöhten öffentlichen Interesse
, das die Leute hier in diesem Raum angefacht hatten, verdankte es Irmtraud Wegner, dass sie nicht den Hörer aus der Hand legen konnte. Als Albrecht das Revier verlassen hatte, hatten sich exakt einhundertsiebenundsiebzig Zeugen gemeldet, die gesehen haben wollten, wie ganze Rudel satanistischer Fetischhuren auf Ole Hartungs Rücken über die Reeperbahn geritten waren oder ihn am Nasenring durch die Straßen der Hansestadt geführt hatten.
Das war der Grund, aus dem die Kollegen vom Kommissariat jetzt dutzendweise sinnlosen Spuren nachgehen mussten, anstatt sich auf die wirklich erfolgversprechenden Ermittlungsansätze zu konzentrieren.
Sobald es erfolgversprechende Ansätze gab.
Ermittlungsarbeit war ein ständiges Puzzlespiel, ein Wühlen in Details. Mitunter war sie lebensgefährlich, doch gleichzeitig geprägt von unendlichen Phasen trostloser, ermüdender Analyse. Dazu kam der erstickende Zeitdruck, der notorische Personalmangel.
Und die Dunkelheit in den Seelen der Menschen. Jeder Fall eine Tragödie, der Tod allgegenwärtig, manches Opfer nicht viel besser als der Täter. Es färbte ab. Wie ein Schleier, der sich über die Seele legte, wenn man eine zu lange Zeit seines Lebens damit verbrachte, die Tatbestände so darzustellen, wie sie sich in Wahrheit verhielten: dunkel und hässlich, doch selten so grell und spektakulär, wie die Privatsender und die blutigen Blättchen es ihren Lesern und Zuschauern verkaufen wollten.
Und das Schlimmste war, dass das den Männern und Frauen in den Stuhlreihen klar war. Die Polizeireporter wussten sehr gut, was wirklich Sache war, und es war nicht zu übersehen, dass die meisten von ihnen gar nicht richtig hinhörten, während Isolde Lorentz eine ihrer weitschweifenden Erklärungen abgab. Die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt, verschickten SMS oder lasen eingehende Nachrichten.
Wozu überhaupt noch Zeitungen und Fernsehen, dachte Albrecht. Wir sind überall und immer auf Empfang, erfahren tausend Dinge, von denen irgendjemand beschlossen hat, dass sie uns zu interessieren haben. Den Täter, bevor er ermittelt ist, den Mord, bevor er geschieht.
«Vielen Dank, Frau Präsidentin.» Der Pressesprecher nickte der Lorentz zu. «Ich denke, das beantwortet die Frage. Und nun … ah, Frau Stahmke.»
Albrechts Blick schoss nach rechts.
Wie hatte er die Frau übersehen können? Die Kanal-Neun-Journalistin saß in der vordersten Reihe, beinahe am Rand allerdings. Allzeit bereit, im Fall der Fälle zum Schauplatz des nächsten schmutzigen Verbrechens
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