Ich bin der Herr deiner Angst
erst zu versprechen, dass sie vorbeikommen würde, und dann nicht abzusagen, wenn sie es doch nicht schaffte. Ob es plötzlich losgegangen war mit dem Baby?
Doch ich drängte den Gedanken beiseite und setzte mich auf einen Sessel, so nahe bei Sabine, dass ich ihr zur Not die Hand auf den Arm legen konnte.
Allerdings schien sie im Moment ganz vergessen zu haben, dass ich überhaupt da war. Mit leerem Blick starrte sie gegen die Schrankwand.
Ich suchte nach Worten. Das erste Gespräch mit den Angehörigen ist schlimm genug, selbst wenn man ihnen gerade zum ersten Mal begegnet.
Aber Sabine kam mir zuvor.
«Warum hat er das nur gemacht?» Sie sah mich nicht an. «Kannst du mir sagen, was er sich dabei gedacht hat?»
Ich holte Luft. Was sollte ich nur sagen? Was hatte der Chef sich vorgestellt?
Ach, gut dass du von selbst drauf kommst, Sabine. Weißt du zufällig, ob Ole schon länger auf diese Hardcore-Fesselspielchen stand? Habt ihr das auch mal zusammen ausgelebt, oder hat er sich da Nutten suchen müssen? Weil: Das könnte uns eine Hilfe sein, wenn wir herausfinden wollen, ob’s mit dem Job zu tun hatte oder ob es was Persönliches war, warum sie ihm den Schwanz und die Eier abgeschnitten haben.
«Wir …» Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und stellte fest, wie rau sie waren. Plötzlich hatte ich fürchterlichen Durst. «Wir wissen noch gar nichts, Sabine. Wir sind noch ganz am Anfang. Es kann tausend Erklärungen geben, wie er …»
«Ach ja?» Ihre Augen waren wie tot gewesen, doch plötzlich glomm dort ein Funke auf. «Du meinst, jemand hat ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich auf diesen Stuhl …»
Mit einem keuchenden Laut brach sie ab und begann wieder zu weinen, diesmal von einem hohen Winseln begleitet, das sich nicht menschlich anhörte. Ich drückte meine Hände auf die Sessellehnen, um mir nicht die Ohren zuzuhalten.
«Es ist
alles
möglich», sagte ich und glaubte mir selbst nicht. «Ich … Wir hatten gehofft, dass … du uns vielleicht …»
Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Es ging einfach nicht.
Ganz langsam veränderte sich ihr Gesichtsausdruck noch einmal. Ganz allmählich wurde ihr klar, wer ich eigentlich war und warum ich wirklich gekommen war.
Ich kam mir vor wie eine Verräterin.
«Wir …» Ich schluckte, schüttelte den Kopf.
Wir müssen herausfinden, was passiert ist, dachte ich. Das ist unsere Aufgabe. Das ist alles, was wir noch für ihn tun können – und für dich.
Ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Magen enger und enger schnürte.
Sorry und nichts für ungut, aber das ist halt unser Job.
Sabine Hartung versuchte aufzustehen. Sie schaffte es erst beim zweiten Versuch. Automatisch stand ich ebenfalls auf.
Jetzt schmeißt sie dich raus.
Im selben Moment klingelte das Telefon.
Sabine erstarrte mitten in der Bewegung und sackte aufs Sofa zurück, als habe jede Energie sie verlassen.
«Das geht seit heute Morgen so», murmelte sie. «Das Fernsehen und … Irgendwelche Leute, die ich seit Monaten nicht gesehen habe, und die sich auf einmal …» Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder.
Der Apparat stand auf dem Couchtisch, von ihr genauso weit entfernt wie von mir. Bei ihr war außerdem die Likörflasche im Weg.
Mein Blick fiel eher zufällig auf das Display, und ich brauchte zwei Sekunden, bis ich begriff, dass ich die Nummer kannte.
«Das ist Kerstin», murmelte ich.
Fragend sah ich Sabine an, die Hand schon nach dem Hörer ausgestreckt.
Ihr Blick wies mich zurück. Umständlich beugte sie sich vor und griff nach dem Mobilteil. «Ja … Ja?» Zwei Silben, aus denen die Erschöpfung der ganzen Welt sprach.
Dann Schweigen. Ich glaubte das Flüstern am anderen Ende der Leitung zu hören, spürte, wie mein Herz schneller schlug. Das Baby? War schon alles durchgestanden? Eine gute Nachricht an diesem schwarzen Tag?
Sabines Stirn legte sich in Falten. «Was?»
Nur ein einziges Wort diesmal, doch wie auch immer das sein kann: Ob ich etwas ahnte und was auch immer das war – denn die Wahrheit kann es unmöglich gewesen sein … Mein Herz setzte aus, machte dann plötzlich zwei, drei schmerzhafte Schläge. Die Wände des Zimmers schienen auf mich zuzukommen. Ich starrte auf Sabine Hartungs kalkweißes Gesicht, auf ihre Lippen, die sich bewegten, ohne ein Wort zu sagen.
«Was?» Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Nein, sie hat angerufen und gesagt, dass sie … Nein. Hast du versucht, sie …?» Schweigen. Sie
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