Ich bin der Herr deiner Angst
gekommen und hatten sich zusammen ein in die Jahre gekommenes Segelboot gekauft, das sie seitdem wieder flottzumachen versuchten. Kerstin und ich hatten über die beiden gelächelt – natürlich nur, wenn sie nicht dabei waren. Ansonsten hatten wir andächtig ihren Diskussionen über das Für und Wider unterschiedlicher Flüssigharze gelauscht.
Nach Lächeln war mir jetzt nicht zumute.
Zwei Schritte vor Oliver blieb ich stehen. Er war einen Kopf größer als Kerstin und immer noch ein ganzes Stück größer als ich. Einen Moment lang rechnete ich damit, er würde sich in meine Arme werfen, wie Sabine Hartung das getan hatte, doch er stand einfach da, löste die Hand vom Zaun und starrte mich an.
Die Straßenbeleuchtung sprang an, flackerte drei, vier Mal unschlüssig hin und her und warf tiefe Schatten auf sein Gesicht.
«Oliver?» Die Kälte des Abends kam rasch. Meine Stimme versickerte im Dunst, der sich über dem nassen Asphalt gebildet hatte.
«Ich habe an der Wiege gearbeitet. Alles abgebeizt.» Er sprach langsam, als ob er ein Beruhigungsmittel genommen hätte. Ich hoffte es für ihn. «Raoul hat mir geholfen.»
Raoul war fünf Jahre alt und seit Monaten ganz aus dem Häuschen wegen der bevorstehenden Ankunft eines Brüderchens oder Schwesterchens.
«Die Nachbarin passt jetzt auf ihn auf.»
Ich atmete auf. Offenbar war er fähig, klar zu denken.
«Kerstins Handy liegt auf dem Nachttisch.» Er wischte sich über die Nase. Im Laternenlicht sah ich glitzernde Reflexionen auf seinen Wangen. «Ich habe ihr tausend Mal gesagt, sie soll das Handy mitnehmen, jetzt, wo es fast so weit ist. Und wenn sie nur auf das
beschissene Klo
geht!» Der letzte Satz kam sehr viel lauter als der Rest.
Ich nickte beherrscht. «Bitte mach dir nicht zu viel Sorgen», sagte ich leise. «Wir sind mitten in der Stadt. Wahrscheinlich ist sie einfach zu einer Freundin …»
«Sie war
unterwegs
zu einer gottverdammten Freundin!» Noch lauter. «Einer Freundin, deren Mann sie heute Nacht die Eier abgeschnitten und ins Maul gestopft haben!»
Ich zuckte zusammen. War auch dieses Detail inzwischen bekannt?
«Mitten in der Stadt!», fauchte er. «Einem Bullen! Von eurem Revier! Genau wie Kerstin!»
«Oliver …» Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er starrte sie an, als wollte er sie beiseiteschlagen, aber meine Augen hielten ihn fest. «Oliver, Kerstin ist meine Freundin. Bitte glaub mir, wir tun, was wir können. Lehmann muss gleich hier sein, und auch der Chef ist schon unterwegs.» Ich betete zu Gott, dass das so war. «Ich habe eine Hundestaffel angefordert.»
Nein, ich würde nicht erwähnen, dass zu einer Hundestaffel selbstverständlich auch Leichensuchhunde gehörten.
Das waren diejenigen, die am häufigsten gebraucht wurden.
***
Das Heck des Dienstwagens brach aus, als Albrecht über die Gegenfahrbahn scherte und in das Wohngebiet an der Wellingsbütteler Landstraße einbog.
Euler kauerte auf dem Beifahrersitz. Er hatte kein Wort gesagt, seitdem sie das Präsidium verlassen hatten.
Wahrscheinlich zerbrach er sich gerade den Kopf, wie er in diese Situation gekommen war. Euler war Rechtsmediziner, der Mann für die Leichen, und damit nicht konkret Albrecht zugeordnet. Er wurde von den unterschiedlichen polizeidienstlichen Stellen hinzugezogen, wenn die Ermittlungen das erforderten.
Wenn es Tote gab, dachte Albrecht.
Tote hatten keine Eile. Vermutlich war Euler in seiner gesamten Laufbahn noch nicht gezwungen gewesen, im Rahmen einer Ermittlung die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu brechen.
Ein Schlag traf den Wagen, als der Hauptkommissar mit knapp sechzig Stundenkilometern eine der Bodenwellen überfuhr, die den Verkehrsfluss in der Tempo-dreißig-Zone drosseln sollten.
Geradeaus war Blaulicht zu sehen. Albrecht trat in die Bremsen. Schlingernd kam der Wagen zum Stehen.
Uniformierte Beamte, Anwohner, die im Zwielicht über den Gartenzaun gafften. Verdammt, wenn die Leute was zu erzählen hatten, sollten sie ihre Aussagen machen. Alles andere war eine Behinderung der Ermittlungen.
«Wo ist Friedrichs?», knurrte er den ersten Kollegen an, den er zu fassen kriegte. Nie gesehen den Mann, doch der Beamte machte gar keinen Versuch, nach Albrechts Ausweis zu fragen, sondern deutete wortlos die Straße hinab.
Der Hauptkommissar stapfte los.
«Chef!» Der junge Lehmann löste sich aus dem Schatten einer Gartenpforte und ließ das schmiedeeiserne Gatter dabei offen stehen.
«Bericht!»
«Wir sind selbst
Weitere Kostenlose Bücher