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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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sondern der Spieler. Andererseits sind Sie und ich dem König des Schachspiels insofern ähnlich, als wir – anders als der Spieler – während der Partie ebenfalls in Gefahr geraten. Wobei die Regeln es streng genommen verbieten, den König zu schlagen. Wenn der Spieler matt gesetzt ist, ergibt sich der König.» Ein tiefer Zug, der die Zigarette bis zum Filter aufglühen ließ. «Mein Senat hatte Anweisung, auf keinen Fall nachzugeben, falls ich selbst diesen Leuten in die Hände fallen sollte.»
    Jörg Albrecht hatte zugehört, doch seine Augen waren schon wieder bei der geschnitzten schwarzen Figur.
    «Aber genau das ist es», sagte er leise. «Der Gegner schlägt die einzelnen Figuren, schlägt Bauern, schlägt Türme und Läufer, schlägt den Springer, selbst die Dame. Jedes Opfer hat eine Bedeutung: für unseren Gegner, weil sie Mittel zum Zweck sind, aber mehr noch für uns. Denn mit jedem von ihnen …» Er suchte den Blick des alten Mannes, verschwommen hinter einer Qualmwolke, als Schultz sich übergangslos die nächste Zigarette anzündete. «Mit jedem von ihnen stirbt ein Stück von uns», erklärte Albrecht. «Von
mir
. Denn das ist das eine, das wahre Ziel, Herr Bürgermeister: der König. Ich bin das Ziel.»
    «Dazu kann ich nichts sagen.» Lungenzug.
    Doch je länger Albrecht die Aufstellung der Figuren betrachtete, desto deutlicher wurde es.
    «Selbst Stahmke passt ins Bild», murmelte der Hauptkommissar. «Seit mehr als zwanzig Jahren rückt die Frau mir nicht von der Pelle. Und ausgerechnet sie ist es, die die entscheidenden Informationen jedes Mal eine Winzigkeit vor mir erhält. Und mit den Informationen die Gelegenheit, die Toten vor ihrer Kamera zur Schau zu stellen. Diese Stahmke …»
    «Kenn ich nicht.» Schultz aschte ab. «Die Presselandschaft hat sich seit meiner Amtszeit verändert. Und nicht zum Guten.»
    «Ich habe sie festsetzen lassen.» Jörg Albrecht war seit drei Jahren Nichtraucher. Die Abende mit Schultz waren eine immerwährende Versuchung, dieser Abend mehr denn je. «Vierundzwanzig Stunden kann ich sie festhalten», murmelte der Hauptkommissar. «Sie wird damit gerechnet haben, dass ich jede Sekunde nutzen werde, um sie auszuquetschen. Ein Grund mehr, das exakte Gegenteil zu tun.»
    «Ich sage Ihnen nicht, dass Sie unnötige Rücksicht auf die Presse nehmen sollen.» Die Augen des alten Mannes verengten sich. «Das habe ich zu meiner Zeit auch nicht getan. Was in der konkreten Situation geboten erscheint, steht immer an erster Stelle. Doch es führt zu nichts, diese Leute unnötig zu reizen.»
    Albrecht schüttelte stumm den Kopf. Stahmke war der einzige Ansatzpunkt, den er im Augenblick hatte, und sein Gefühl sagte ihm, dass er am ehesten Auskünfte erhalten würde, wenn er sie schmoren ließ.
    Das ist es, was uns unterscheidet, dachte er, während er beobachtete, wie Schultz den Qualm genießerisch durch die Nasenlöcher ausblies.
    Intuition. Heiner Schultz war ein Mensch, der eine Sache sorgfältig von allen Seiten durchdachte, das Für und Wider abwog, bevor er eine Entscheidung traf. Eine Taktik, die seltsamerweise selbst unter Zeitdruck funktionierte.
    Und genau hier war Jörg Albrecht anders. Es gab Momente in einer Ermittlung, in denen er die Richtung, in der die Fäden des Falles verliefen, zu spüren glaubte.
    Und dies war einer dieser Momente.
    Er selbst war das eigentliche Ziel des Täters. Der Gedanke verfestigte sich von Sekunde zu Sekunde, ließ zum ersten Mal Perspektiven deutlich werden, Erklärungsansätze und Möglichkeiten.
    Jörg Albrecht als Ziel, seine Mitarbeiter als potenzielle Opfer.
    Was sagte das über den Täter aus? Oder die Täterin?
    Konnte Albrecht wirklich noch glauben, dass diese Taten auf das Konto einer Frau gingen?
    «Wer?», murmelte er. «Und warum?»
    Heiner Schultz betrachtete ihn.
    Der Hauptkommissar wusste, dass der alte Mann keine Antwort für ihn hatte.
    Die Antwort, die sich wie von selbst aus der richtigen Frage ergab.
    Jörg Albrecht hatte das Gefühl, dass er ihr einen wichtigen Schritt näher gekommen war.

[zur Inhaltsübersicht]
Zwischenspiel I
    Tiefe Dunkelheit liegt über dem menschenleeren Gelände im Schatten des Raffineriehafens.
    Aufmerksam blicken die Augen durch die Okulare des Feldstechers.
    Die Stunde, zu der sich die Tür des Wohnmobils allabendlich öffnet und der graue Mann sich aus seiner Zuflucht hinaus ins Zwielicht wagt, ist bereits verstrichen.
    Doch der analytische Verstand, der sich an seine Spur

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