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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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beständigen Versuche, ihn fernmündlich zu beglucken, bizarre Formen an.
    Wenn aber der Atomtod ins Spiel kam …
    Nein, es machte keinen Unterschied, dass die Leute jahrzehntelang mit den Kraftwerken in Krümmel, Brokdorf und Brunsbüttel direkt vor der Tür gelebt hatten.
    Nukleare Strahlung.
    Der Täter hatte ein Zeichen setzen wollen, so viel stand fest. Klar, präzise und überlegt.
    Diese Erkenntnis war wichtig.
    Natürlich war Jörg Albrecht erleichtert, dass von Eberts strahlenzerfressenem Leichnam keine Gefahr für die Millionenstadt ausging.
    Erleichtert – aber nicht überrascht.
    Er war im Begriff, sich ein Bild vom Täter – oder der Täterin – zu machen, und eine großräumige nukleare Verseuchung hätte nicht in das Schema gepasst, das er verschwommen zu erkennen begann.
    Eine Taktik der langsamen, klammheimlichen Eskalation. Und dies war erst der zweite Schritt auf dem Wege … Auf dem Wege, ja, wohin?
    Nirgendwohin, dachte Albrecht, als er auf die Langenhorner Chaussee einbog. Nicht mehr heute Abend jedenfalls.
    Heute Abend hatte er eine Verabredung.
    Alles andere musste Zeit haben bis morgen. Morgen – wenn es weitergehen würde.
    Was im
Fleurs du Mal
und auf dem Friedhof geschehen war, war nichts als eine misstönende Ouvertüre gewesen, ein Präludium in Zwölftonmusik, dargeboten von einem tollwütigen Schimpansen.
    Warum dachte er in musikalischen Begriffen?
    Es musste daran liegen, dass er zu Heiner Schultz unterwegs war.
    Der letzte Dienstag im Monat. Eine der wenigen Konstanten, die in Jörg Albrechts sogenanntem Leben noch existierten, die Anrufe seiner Schwester einmal ausgenommen.
    Der Abend des letzten Dienstags im Monat war heilig. In einem Vierteljahrhundert waren Heiner Schultz und Jörg Albrecht ganze drei Mal von dieser Gewohnheit abgewichen: zwei Mal war Schultz auf Vortragsreise im Ausland gewesen, und ein Mal hatten Albrechts Mädchen gleichzeitig die Masern bekommen. Ansonsten aber, seit sechsundzwanzig Jahren …
    Es hatte damit begonnen, dass Albrecht ein Bagatelldelikt in der Nachbarschaft untersucht hatte, kurz nachdem Schultz sein Amt als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt nach nahezu zwei Jahrzehnten aufgegeben hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen – und irgendwie hatte es sich ergeben.
    Jörg Albrecht war sich bis heute nicht sicher, warum der alte Mann gerade an ihm
einen Narren gefressen
hatte, wie Joanna es einmal ausgedrückt hatte. Sicher war er sich lediglich, dass er selbst es anders ausdrücken würde.
    Monat für Monat, dachte er. Und er hätte nicht einmal beantworten können, ob er im eigentlichen Sinne mit dem alten Mann befreundet war.
    Diese Frage stellt sich nicht
. Das würde vermutlich Heiner Schultz anworten.
    Jörg Albrecht nickte dem einzelnen Wachmann zu, als er sein Fahrzeug vor dem unscheinbaren Reihenhaus in einer Seitenstraße abstellte.
    Die Begrüßung durch die Hausangestellte war freundlich wie immer. Maria stammte aus einem Land im ehemaligen Ostblock und lebte seit dem Tod von Schultz’ Ehefrau mit dem ehemaligen Bürgermeister unter einem Dach.
    Heiner Schultz selbst saß an seinem Platz in der Bibliothek, an dem er jedes Mal auf Albrecht wartete, im Rollstuhl inzwischen, und zog an einer Zigarette.
    «Herr Bürgermeister?»
    «Der Name ist Schultz!»
    Die Begrüßung war ein Ritual. Sie reichten einander die Hand.
    Albrecht hatte den Eindruck, dass die hellwachen Augen unter den schneeweißen Brauen ihn noch eine Spur aufmerksamer betrachteten als gewöhnlich. Ob der alte Mann die Pressekonferenz …
    Doch Heiner Schultz verfolgte keine Fernseh- oder Radionachrichten mehr. Was wirklich wichtig sei, sei schließlich ebenso gut am folgenden Morgen in der Zeitung nachzulesen.
    Albrecht zögerte.
    Aus einer unsichtbaren Quelle plätscherte ein Klavierkonzert, kaum mehr als ein Hintergrundrauschen. Das Schachspiel stand zwischen ihnen auf dem Tisch, ein Geschenk von Schultz’ altem Freund, dem ehemaligen französischen Präsidenten, die weißen Figuren heute dem Hauptkommissar zugewandt. Monat für Monat wurde es einmal um die eigene Achse gedreht, doch es musste irgendwann im vergangenen Jahrtausend gewesen sein, dass sie zuletzt eine Partie miteinander gespielt hatten.
    Sie sprachen über tausend Dinge an diesen Abenden. Fast nie über die konkrete Weltlage – Schultz’ Geschäft – oder über konkrete Ermittlungsarbeit – Albrechts Geschäft. Sokrates und Marc Aurel saßen mit am Tisch, wenn sie

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