Ich bin der Herr deiner Angst
entscheidenden Schritt voraus war.
Hätten wir ahnen können, dass es zwei Schritte waren oder drei?
Irgendwann, als ich mit Hilfe von anderthalb Gläsern Rotwein die notwendige Bettschwere erreicht hatte und Dennis mich mehr oder weniger ins Schlafzimmer trug, mich fragte, ob er noch irgendwas für mich tun konnte …
Klar doch, nimm mich ran, bis ich ohnmächtig werde und alles vergesse.
Nichts davon geschah. Falls doch, ist mir was entgangen.
Ich schlief wie ein Stein.
Und dann dämmerte der zweite Tag.
Wir mussten damit rechnen, dass dies der entscheidende Tag werden würde. Das Verhör mit Stahmke stand an, und Albrecht hatte mir am Abend noch verraten, dass er mich unbedingt dabeihaben wollte. Irgendwie musste ich Eindruck auf ihn gemacht haben, was ich mir nicht recht erklären konnte. Ole Hartung war tot. Kerstin war tot.
Doch ich war mindestens so scharf drauf wie Albrecht selbst, den Täter … die Täterin … die
Kreatur
in die Finger zu kriegen, die diese Morde zu verantworten hatte. Kerstin war meine Freundin gewesen, ihr Kind … Ich mochte nicht daran denken.
Ein düsterer Schleier lag über diesem Morgen.
Der Verkehr über die Neuen Elbbrücken war noch ekelhafter als üblich. Ich war bereits kurz davor, zu bedauern, dass ich nicht den Tunnel genommen hatte und anschließend die Strecke quer durch Altona. Einen deutlicheren Hinweis auf meinen Geisteszustand hätte es kaum geben können.
Doch wie von Zauberhand: Sobald ich die Brücke hinter mir hatte, war die Strecke auf wundersame Weise frei. Ich musste mich nur noch durch das Labyrinth der Einbahnstraßen schlagen, und schon bog ich zum Revier ab, kaum zehn Minuten später, als ich Max Faber versprochen hatte.
Der Glatzkopf hatte zwar eine natürliche Gabe, überall ein Haar in der Suppe zu finden – bei seiner Frisur erstaunlich –, doch wenn man ihn besser kannte, wurde einem klar, dass er ein Herz aus Gold hatte.
Nachdem ich bereits die vorangegangene Nachtschicht übernommen hatte und die Tagesschicht dazu, hatte Faber mir angeboten, spontan zu tauschen. Obwohl er selbst einigermaßen mitgenommen aussah nach der Sache auf dem Friedhof.
Ich überlegte schon, ob ich ihm noch ein Dankeschön besorgen sollte – doch in diesem Moment kam das Revier in Sicht.
Besser gesagt kam es
nicht
in Sicht. Die Straße war dicht, zugeparkt mit Pressefahrzeugen: die Privaten, die Öffentlich-Rechtlichen und Fahrzeuge, die ich einzelnen Zeitungskorrespondenten zuordnen konnte. Sogar aus dem Ausland war was dabei.
Das Herz rutschte mir in die Hose. Natürlich. Die Atomnummer.
«Jörg Albrecht», murmelte ich. «Ich will nicht in deiner Haut stecken.»
Nachdem ich das Auto auf dem Parkplatz des Reviers abgestellt hatte, gelang es mir mit Mühe, mich durch den Pulk zu schieben. Ich spitzte die Ohren, erfuhr aber lediglich, dass das, worauf all diese Leute warteten, noch nicht begonnen hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich mich bis zur Tür durch, warf mich dagegen – und stolperte ins Leere.
«Oha! Guten Morgen!»
Schwankend blieb ich auf den Beinen und sah nach oben.
Markante, gebräunte Züge, ein Designeranzug, der eins meiner Monatsgehälter verschlungen hätte. Und die Zähne, die mit einem breiten Lächeln zum Vorschein kamen, als der Mann mich erkannte, hätten noch mal das Doppelte gekostet.
Joachim Merz.
Es ist natürlich überflüssig, viel über Merz zu erzählen. Joachim Merz, der Staranwalt, Joachim Merz, der Stammgast in jeder Talkshow, die auch nur entfernt mit juristischen Themen zu tun hat. Joachim Merz, der diesen Fernsehmenschen rausgepaukt hatte, dem Vergewaltigung seiner Exfrau vorgeworfen worden war, oder den Staatssekretär, dem plötzlich nicht mehr nachgewiesen werden konnte, dass er stockbesoffen gewesen war, als sich das Rentnerehepaar irgendwie unter seinen BMW verirrt hatte.
Joachim Merz eben.
Man kennt ihn.
Was mich nun anbelangt …
Es war zwei oder drei Jahre her, das Ende eines seiner legendären, spektakulären Prozesse. Ich war mehrfach in den Zeugenstand gerufen worden, und er war hart, aber trotzdem gentlemanlike mit mir umgegangen. Ganz sicher war ich mir nicht gewesen, aber ein paar Mal hatte ich das Gefühl gehabt, als versuchte er, im Angesicht von Richtern und Schöffen mit mir zu flirten.
Jedenfalls hatte ich bei der Urteilsverkündung dabei sein wollen, und im Anschluss hatte er mich mit der Frage überrascht, ob wir den Erfolg nicht mit einem Gläschen Wein feiern
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