Ich bin der Herr deiner Angst
geheftet hat, hat sich nicht verrechnet. Wochenlang hat er das Verhalten des grauen Mannes studiert, soweit es aus der Ferne möglich ist. Er hat jeden von Ängsten und Zwängen diktierten Schritt des Mannes akribisch notiert und in ein Schema eingepasst, aus dem am Ende die Einzelheiten seines Plans erwachsen sind.
Bei Lichte betrachtet ist der Ansatz seines Vorgehens lächerlich einfach, geradezu selbstverständlich beinahe. Aber noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen, die Dinge bei Licht zu betrachten.
Doch er rückt näher.
Die ersten Schritte sind getan, die Spur gelegt.
Noch bietet sie vielen Deutungen Raum. Diejenigen, die es für ihre Aufgabe halten, der Spur zu folgen, werden Mühe haben, jetzt schon die Antworten zu finden, auf die sie in einem späteren Stadium stoßen sollen.
Dass das geschieht, ist notwendig, ein essenzieller Bestandteil des Versuchsaufbaus.
Doch da besteht kein Risiko. Der
modus operandi
ist variabel, die Möglichkeit, die Dinge zu forcieren, jederzeit gegeben.
Die Augen hinter Feldstecher und Nachtsichtgerät können ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Wohnmobil richten.
Flüsternd dringen die Geräusche eines Fernsehgeräts durch die Dunkelheit. Kanal Neun. Der Sender wird niemals gewechselt. Das – unter anderem – hat den letzten Schritt so simpel gemacht.
Die Tür, von der die Farbe blättert, die Tür mit den sorgfältig geölten Angeln, wird sich erst dann öffnen, wenn Klarheit herrscht über das Schicksal der Frau. Es ist ein Kausalsystem. Die Abfolge von Ursache und Wirkung lässt sich exakt voraussehen: Die Nachricht an den Sender löst die Berichterstattung aus, und die Berichterstattung wird die Reaktion des Zielobjekts provozieren. –
Jetzt.
Die Tür wird geöffnet.
Der graue Mann stolpert ins Freie. Seine angstgeweiteten Augen blicken in die Schwärze. Die Dunkelheit wirbelt um ihn herum, ein Orkan in seinem Kopf. Bilder und Schemen, greller denn je.
Und die Hetzjagd zum Kiosk beginnt von neuem, jeder taumelnde Schritt ein kleiner Tod.
Die Geister sind um ihn, in ihm, ihre Schreie ein gespenstisches Libretto zum peitschenden Rhythmus seines Atems. Er befindet sich im Innern der Hölle, und ihre Pforten sind verschlossen. Es gibt kein Entkommen.
Die Augen in der Dunkelheit hätten es nicht nötig, ihre Position zu verändern.
Sie tun es trotzdem, heften sich an die Fährte des grauen Mannes.
Wie Wind in der Nacht.
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drei
D er Moment, in dem es
richtig
losging, war im Rückblick der Morgen des zweiten Tages.
Hätte ich auf die Dinge vorbereitet sein sollen, die mich an diesem Tag erwarteten?
Dennis hatte in unserem Haus draußen in Seevetal auf mich gewartet. Klar, wir hatten auch einen Fernseher, und Kanal Neun war nicht der einzige Sender, der auf die Story vom unheimlichen Polizistenkiller angesprungen war. Sie liefen Margit Stahmke alle brav hinterher. Und anders als die persönliche Heimsuchung unseres Chefs saßen sie an diesem Abend nicht in einer Untersuchungszelle auf dem Revier. Während wir noch auf die Strahlenschutzexperten gewartet hatten, war der Fundort von Kerstins Leichnam bereits weiträumig abgesperrt worden. Doch draußen auf der Fuhlsbüttler Straße hatten die Kamerateams alle Zeit der Welt gehabt, ihr Equipment aufzubauen. Ein ABC -Kommando, das mit Blaulicht und Martinshorn auf den Ohlsdorfer Friedhof rollte – eindrucksvolle Bilder.
Es drehte mir den Magen um. War den Presseleuten klar, dass sie dem Täter in die Hände arbeiteten? Spielte das eine Rolle für sie? Wer auch immer für Kerstins und Hartungs Tod verantwortlich war: Er hatte genau das gewollt. Aufmerksamkeit.
Die Sache war der große Aufmacher in allen Nachrichtensendungen. Sogar bei der Talkshow hatten sie noch schnell genug geschaltet und einen Autor von Serienmörder-Thrillern sowie die üblichen Atomkritiker eingeladen.
Halb besinnungslos hatte ich neben Dennis auf dem Sofa gelegen, an seine Brust gekuschelt, und schon halb damit gerechnet, dass sie auch noch Wolfram und den Traumfänger-Fall auspacken würden.
Im Nachhinein ist das wohl einer der Momente gewesen, in denen ich hätte schalten sollen. Nur war ich leider Gottes in ebendiesem Moment bereits im Begriff davonzudämmern, eingelullt von den sonoren Stimmen aus der Glotze und dem schwachen Hauch von Dennis’ Aftershave.
Die Frage ist, ob es überhaupt einen Unterschied gemacht hätte. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns bereits sicher, dass uns der Täter einen
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