Ich bin der Herr deiner Angst
wollten. Nun, nach meinem Gefühl war sein Mandant diesmal tatsächlich im Recht gewesen, und irgendwie …
Eins kam zum anderen. Zwei Stunden später rief ich Dennis an, dass ich leider die Nachtschicht übernehmen müsse. Ich erinnere mich, dass er sehr verständnisvoll klang – überzeugt klang er nicht.
Kleine Geheimnisse. Auch Dennis hatte welche. Das wusste ich, seitdem ich im zweiten Jahr unserer Ehe einmal zufällig an einer Ampel neben einem unbekannten Wagen gehalten hatte, in dem ich zu meiner Überraschung meinen eigenen Ehemann entdeckte – in Gesellschaft einer schon unappetitlich üppigen Blondine.
Und ich hatte beschlossen gleichzuziehen.
Wahrscheinlich sagte es einiges über mich aus, dass Dennis nach wie vor haushoch in Führung lag. Mein einziger Punktgewinn stand mir in genau diesem Moment im Eingang des Kommissariats gegenüber und bedachte mich mit seinem Hollywoodlächeln und einem tiefen Blick seiner braunen Augen.
«Hallo, Hannah.»
Er hatte eine Stimme von dieser Sorte, die eigentlich in die Kategorie «frei ab achtzehn» fällt. Und natürlich war ihm jeder Skrupel fremd, sie auch vor Gericht einzusetzen.
«Hall…» Ich räusperte mich. «Hallo.»
Eine Bewegung in seinem Rücken. «Joachim! Worauf warten Sie noch!»
Ich erstarrte. Diese Stimme kannte ich.
Joachim Merz trat einen halben Schritt zur Seite – ich las das Bedauern in seinen Augen –, und Margit Stahmke schob sich an ihm vorbei. Ihr Blick loderte auf, als sie mich erkannte, doch sie warf nur den Kopf in den Nacken und stolzierte an mir vorbei durch die Tür.
In die Freiheit.
Raus auf die Straße, wo auf der Stelle ein Stimmengewirr losbrach und die Luft sich von den Blitzen der Fotoapparate verfärbte.
«Jo-achim!»
Ungeduldig, durch die Tür.
«Was …», murmelte ich.
Mein Sündenfall schenkte mir ein letztes Augenzwinkern. «Bitte entschuldige. Ich habe den Eindruck, wir geben gerade eine Pressekonferenz.» Dann, ganz nah an meinem Ohr: «Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.»
Und weg war er.
Ich blieb stehen, wie im Fliesenboden festgewachsen, sekundenlang.
Dann löste ich mich ruckartig und stürmte die Treppe zum Revier hoch. «Albrecht! Was zur Hölle ist hier los?»
***
Bis zu diesem Moment war mir nicht klar gewesen, dass selbst die Glatze eines Mannes blass werden kann.
Max Faber saß an Jörg Albrechts Schreibtisch. Das Büro des Chefs war das einzige, das groß genug war, um dort Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern zu führen.
In diesem Moment sah es viel zu groß aus mit Faber als dem letzten, einsamen – und offenbar bereits skalpierten – Mohikaner.
Er sah mir entgegen, ein Häuflein Elend.
«Wo ist Albrecht?»
Ich klappte den Mund wieder zu. Das war die Frage, die
ich
ihm hatte stellen wollen.
Es war neun Uhr durch. In zwanzig Minuten hätte das Verhör mit Margit Stahmke beginnen sollen. Was Jörg Albrecht betraf, machte das kaum einen Unterschied. Seitdem er seine Junggesellenbude in Altona bezogen hatte, hatte ich noch kein einziges Mal erlebt, dass er nicht um Punkt acht an diesem Schreibtisch gesessen hatte, diesem dunklen Ungetüm aus Mahagoni, hinter dem Faber aus einem unerfindlichen Grund beinahe zu verschwinden schien.
«Hast du ihn angerufen?»
Ich kam halb um den Tisch herum und sah, dass die rote Lampe am Telefon hektisch blinkte.
«Das ist er nicht», murmelte Faber. «Das ist Kanal Sieben oder die Zeitung, oder …» Er stützte den Kopf in die Hände. «Was soll ich ihnen sagen? Mir fällt nichts mehr ein!»
Ich beugte mich vor und drückte zwei Tasten gleichzeitig. Das Blinken erlosch.
«Gar nichts», sagte ich. «Jetzt kommen die Anrufe bei Irmtraud an. Sie wird nicht durchstellen.»
Und zuerst einmal mussten die Presseleute eine freie Leitung kriegen. Unsere Sekretärin hatte mir nur wortlos zugewinkt, als ich durch den Flur gestürmt war. Auch der Zentralanschluss lief heiß.
«Hast du ihn angerufen?», wiederholte ich.
Faber nickte. «Auf dem Festnetz und mobil. Er geht nicht ran.»
Ich biss mir auf die Unterlippe. «Die Nacht vorher hat er mit ziemlicher Sicherheit kein Auge zugekriegt. Er war viel zu schnell am Hörer. Er muss verschlafen haben, zum ersten Mal in seinem Leben.»
Wahrscheinlich hatte er sich die Kante gegeben und war ohnmächtig, dachte ich und beneidete ihn für einen Augenblick. Doch das böse Erwachen würde kommen, ganz schnell.
«Was hat das mit der Stahmke zu bedeuten?»
Max Faber
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