Ich bin der Herr deiner Angst
kam der Regen. Zwei Tage lang schüttete es, und es schüttete dermaßen heftig, dass niemand von ihnen Lust hatte, raus ins Revier zu gehen. Sie trafen sich bei Jörg zu Hause und lasen Donald-Hefte, versuchten die Stimme von Jörgs großer Schwester auszublenden, die mit ihrer besten Freundin stundenlange Dauertelefonate führte.
Zwei Tage später hatte jeder von ihnen jedes einzelne Heft mindestens drei Mal durch. Doch als Jörg in der dritten Nacht aufs Klo musste, hörte er schon, dass der Regen sich in ein unentschlossenes Tröpfeln verwandelt hatte.
Und als er am nächsten Morgen aufstand und zum Fenster ging, war er einen Moment lang einfach nur baff. Der Himmel war unglaublich blau, wie frisch gewaschen.
«Prall», flüsterte er andächtig.
Eine halbe Stunde später waren die Angehörigen der Spinnenbande vollzählig versammelt. Jörgs Mutter schärfte ihnen ein letztes Mal ein, nicht am Teich zu spielen, was sie im Brustton der Überzeugung versicherten. Am Teich? I wo!
Nicht im Traum wäre irgendwelchen Eltern eingefallen, dass ihre Sprösslinge an der Schleuse unterwegs sein könnten. Nicht mal Svens großer Bruder wusste von ihrer Höhle – und das sollte was heißen.
Aufgeregt machten sie sich auf den Weg. Das Gras unter ihren Sandalen war feucht, und durch den Regen der letzten Tage war es mächtig gewachsen. Und das betraf nicht das Gras allein. Jörg schluckte, als er das Dickicht aus Brennnesseln sah, das sich fast über Nacht unter den Kiefern ausgebreitet hatte. Aber als Boss musste man Opfer bringen. Ohne zu zögern, stapfte er hindurch, schob die Zweige beiseite und schlüpfte durch die Lücke im Zaun. Die Jungs folgten ihm über den entstandenen Trampelpfad, David wie immer als Letzter. Jörg beobachtete, wie die andern sich Arme und Beine rieben. Er selbst biss die Zähne zusammen. Ein Boss ertrug die Juckerei ohne Klagen.
«Hey! Das gibt’s doch nicht!»
Mit offenem Mund zeigte Sven in Richtung Höhle. Jörg drehte sich um und spähte in das Halbdunkel unter dem dichten Sommerlaub der Eichen und Erlen.
Die Höhle war noch da, doch ihre Brücke, der Baumstamm: verschwunden.
«Ver
dammt
!», zischte David. Ein Wort, das er mindestens so häufig einsetzte wie sie alle das
prall
. Bei David zu Hause gehörte
verdammt
zu den Wörtern, die man nicht aussprechen durfte.
«Ziemlich unprall», murmelte Jörg.
Zögernd bahnten sie sich den Weg zum Bachufer. Der Boden gab schmatzende Geräusche von sich, wo sie die Füße hinsetzten.
Der Bach war breiter, als sie ihn je erlebt hatten. Trüb und bräunlich wälzten sich die Fluten dahin, Mücken summten über dem Wasser.
Ein ganzes Stück bachabwärts, schon fast an der Schleusenmauer, hatte sich der Baumstamm am gegenüberliegenden Ufer zwischen den Wurzeln verkeilt.
Mit einem gut gezielten Sprung hätte man ihn vielleicht erreichen können. Aber eben nur vielleicht. Es gab praktisch keinen Platz für einen Anlauf.
«Ganz ausgesprochen unprall», bestätigte Sven. Er war auf einen vermoderten Baumstumpf geklettert, sodass er Jörg überragte. Sven war nur ein paar Zentimeter kleiner als der Boss – jetzt war er größer. Jörg sah sich rasch nach einem eigenen Baumstumpf um.
«Wenn wir …»
Beide drehten sich um.
David zog die Schultern ein. Er schien schon zu bereuen, dass er den Mund aufgemacht hatte. Doch jetzt sahen ihn alle an, auch Jens und Uwe.
«Wenn wir’s wie Tarzan machen könnten», murmelte er. «Mit den Lianen von Baum zu Baum. Aber geht ja nicht. Ver
dammt
!»
Jörg kniff die Augen zusammen. Das Wurzelgeflecht, in dem sich der Baumstamm verklemmt hatte, gehörte zu einer Erle, und einer ihrer Äste streckte sich weit über das Wasser.
Doch der Baum war keine zehn Meter von der Schleuse entfernt.
Das Brausen und Tosen der stürzenden Flut war viel lauter als gewöhnlich. Schon hier vorn, wo das Wasser sonst noch entschlusslos dahindümpelte, war der Sog deutlich zu erkennen.
Jörg spürte, wie sich die Härchen an seinen Armen ganz langsam aufrichteten. Reflexartig rieb er mit den Handflächen darüber.
Uwe sah ihn fragend an.
«Brennnesseln», murmelte er. «Unprall.»
Ein unbehagliches Gefühl begann sich in seinem Magen auszubreiten, während sie mit vorsichtigen Schritten Richtung Schleuse gingen.
«Hmmm.» Unter der Erle legte Jörg den Kopf in den Nacken. «Wirklich
richtig
unprall. Zu weit oben. An die untersten Zweige kommt man ran, aber die sind zu dünn.»
«Na ja.» Sven reckte sich und bekam
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