Ich bin der Herr deiner Angst
fängt den künstlichen Lichtschimmer über dem Seehafen ein, die gespenstischen Umrisse der Windräder.
Sie stehen still.
Nichts regt sich.
Die Helligkeit hinter den schäbigen Vorhängen des Wohnmobils muss schon vor Stunden erloschen sein. Der graue Mann schläft, doch die Augen hinter den Okularen sind ihm nahe, selbst wenn er sich zähneklappernd in der Sicherheit seiner Wellblechwände verbirgt. Längst muss er erkannt haben, wie trügerisch sie ist.
Ja, sie sind ihm so nahe, dass sie fast ein Teil von ihm sind. Sie spüren seine Unruhe. Spüren die Dämonen, die seine Träume nicht weniger bevölkern als das zerrissene Zerrbild, in das seine Wirklichkeit sich verwandelt hat.
Doch es hat gerade erst begonnen.
Noch kann er nichts davon ahnen … Nein …
Die Hände, die den Feldstecher sinken lassen, zittern leicht, ermattet von dieser Nacht, die so vieles verändert hat.
Sie fordert ihren Tribut. Das Experiment ist aufwendig, und selbst der präzise Geist, dem es im Chaos der zurückliegenden Stunden gelungen ist, die Fäden in der Hand zu behalten, spürt die bleierne Schwäche, die in ihm aufsteigt.
Nein, der graue Mann ahnt sehr wohl, was vorgeht. Zu einem Bruchteil zumindest, doch dieser Bruchteil scheint erschreckend genug.
Aber der Sinn des Experiments an sich, seine Zielrichtung – das ist ihm verborgen und muss ihm verborgen bleiben bis zum Ende, zur Auswertung.
Lediglich eine Andeutung der Richtung, die die Dinge nehmen werden, wird ihm zuteilwerden.
Das wird sich von selbst ergeben, wenn erst einmal jene davon erfahren, die der Fährte mit der eingespielten Gewohnheit altgedienter Spürhunde folgen.
Bar jeder Phantasie.
Der Verstand, der die Laufrichtung der Fäden bestimmt, die Position der einzelnen Objekte im Raum, hat in dieser Nacht neue Erkenntnisse gewonnen.
Er hat Worte deuten müssen und die Stille zwischen den Worten. Wortlose Zeichen.
Sein Wissen ist größer geworden seit Anbruch der Nacht.
Sie sind weit entfernt davon, die Natur des Experiments zu erkennen.
Doch die ihnen zugedachte Rolle spielen sie zu voller Zufriedenheit.
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sechs
J örg Albrecht hatte geträumt.
Ein Traum von brüllenden Wasserstürzen und todesblassen Leibern, die von der Strömung mitgerissen wurden, Zentimeter an ihm vorbei, der er sich in das Wurzelgestrüpp klammerte, das Rettung versprach.
Es waren Bilder, die ihm vertraut waren. Der Traum kam zu ihm, fast so lange er denken konnte.
Der Unterschied war, dass die leblosen Körper diesmal Gesichter hatten.
Faber, Seydlbacher, der junge Lehmann. Martin Euler.
Und Hannah Friedrichs.
Und …
Mit einem lautlosen Schrei war Jörg Albrecht hochgefahren.
Noch im Aufwachen hatte er gewusst, dass der nächste Körper Joannas Gesicht tragen würde. Oder das von Clara, von Swantje.
Eiskalter Schweiß lief ihm in die Augen, als er auf das Mobiltelefon starrte, das neben ihm auf dem Nachttisch des Hotelzimmers lag.
Kurz vor fünf. Er konnte einfach in Ohlstedt durchklingeln. Im schlimmsten denkbaren Fall …
Im schlimmsten Fall würde er den Messias der Zahnheilkunde am Hörer haben.
Genauso gut konnte er auf dem Revier anrufen.
Dort würde man als Allererstes erfahren, wenn der Täter wieder zugeschlagen hatte, in Ohlstedt, bei einem der Kollegen, wo auch immer.
Doch diesen Anruf konnte er sich sparen.
Wer in diesem Moment auf der Dienststelle die Nachtschicht absaß, würde von sich aus den Hauptkommissar verständigen, sobald sich irgendetwas ereignete. In dieser Hinsicht hegte Albrecht nicht die Spur eines Zweifels.
Keiner seiner Mitarbeiter legte Wert darauf, den Rest seiner Laufbahn damit zuzubringen, abgeschlossene Vorgänge alphabetisch abzuheften.
Albrecht tippte das Display an. Die Anzeige für neue Textnachrichten war leer.
Blieb Hannah Friedrichs. Albrecht hatte die Kommissarin nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, ihm noch im Laufe der Nacht Meldung zu machen, was sie über die Stahmke herausgefunden hatte.
Wenn diese Nacht also nicht den großen Durchbruch gebracht hatte …
Sein Finger kreiste über dem Display.
Die Nachtschicht außer der Reihe verdankte Friedrichs ihm. Er wagte keine Prognose, um welche Uhrzeit sie ins Bett gekommen war.
Er biss die Zähne zusammen. Um sieben stand sein Termin mit dem Professor an. Wenn sie sich bis dahin nicht gemeldet hatte, war es vorbei mit der gesegneten Nachtruhe.
Für Jörg Albrecht war sie bereits vorbei.
Er zog sich an, stellte sich ans Fenster
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