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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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und beobachtete, wie der graue Tag über Braunschweig erwachte. Keine hundert Meter entfernt wälzte sich zwischen kahlen Bäumen die Oker dahin.
    Tote Körper in der Strömung. Das Bild war so deutlich, als wären sie tatsächlich vorhanden.
    Jeder dieser Toten war eine Botschaft an Jörg Albrecht.
    Eine Botschaft, die das Wasser mit sich trug.
    Er ist mir voraus, dachte der Hauptkommissar. Er steht stromaufwärts. Ich müsste dem Flusslauf folgen, dann hätte ich ihn.
    Doch ein Fluss hatte zahllose Zuläufe. Zahllose Orte, an denen der Täter zuschlagen, seine grausige Fracht in die Fluten gleiten lassen konnte.
    Der Fluss, dachte er. Der Fluss ist die einzige Konstante. Der Fluss bin ich.
    Und wo ich die Ufer berühre, bringe ich die Menschen in Gefahr.
    ***
    Zwei Stunden später steuerte er seinen Wagen an, das Frühstückspaket des Hotels im Gepäck. Das Wetter würde sich ändern, neuer Regen mit ziemlicher Sicherheit. Er spürte es in der Hüfte, die er sich beim Abdichten des Dachs ausgekugelt hatte, an einem Haus in Ohlstedt, an das er nicht mehr denken wollte.
    Alte Wunden. Nie verheilt.
    Die Straßen waren immer noch verschwommenes Grau, gefleckt mit Neon.
    Um vier Minuten vor sieben stellte der Hauptkommissar das Fahrzeug auf demselben Parkplatz ab wie weniger als elf Stunden zuvor.
    Es war ein Déjà-vu.
    Zigarettenglut, exakt an derselben Stelle wie am Abend: Hinter einer Hausecke, wo Wolczyk von Möllhaus’ Bürofenster aus nicht zu sehen war.
    «Rauchen Sie in Ruhe zu Ende», murmelte Albrecht. «Ich bin’s nur.»
    «Ich weiß.» Eine Qualmwolke. «Er kommt mit dem Fahrrad.»
    Der junge Mann hatte eine Art, den Sätzen eine merkwürdige Betonung zu geben. Albrecht war versucht, sich umzusehen, ob der Professor
in genau diesem Moment
heranradelte.
    Doch dann wäre die Zigarette längst verschwunden gewesen.
    Der Hauptkommissar sah auf die Uhr. Zwei Minuten vor sieben.
    «Er ist sicher pünktlich.» So schätzte er Möllhaus ein.
    «Nein. Heute nicht.» Ein neuer Zug aus der Zigarette. Sie war fast bis auf den Filter niedergebrannt. «Professor Möllhaus hat seine eigene akademische Viertelstunde. Bei ihm fängt alles nicht fünfzehn Minuten später, sondern fünfzehn Minuten früher an. Also vor … vierzehn Minuten.»
    «Haben Sie denn mal geschaut, ob er vielleicht schon da ist?», schlug Albrecht vor.
    Wolczyk neigte den Kopf hin und her. «Ich habe einen Schlüssel.»
    «Und?»
    «Im Institut darf ich nicht rauchen.»
    «Mit anderen Worten können Sie also nicht mit Sicherheit sagen, ob er nicht doch schon da ist?»
    «Na ja, das Fahrrad ist noch nicht da, und …»
    Wolczyk schüttelte plötzlich die Hand, als hätte er sich verbrannt. Wahrscheinlich
hatte
er sich verbrannt.
    Eine Kirchturmuhr, eine zweite fiel ein. Punkt sieben.
    «Kommen Sie!», sagte Albrecht entschlossen. «Machen Sie auf!»
    Zögernd sah der junge Mann ein letztes Mal die Zufahrt hinab, nickte dann.
    «Okay.»
    Wolczyk brauchte drei oder vier Versuche, bis er den Schlüssel im Schloss hatte. Jörg Albrecht war sich mittlerweile sicher, dass es ein ungeschriebenes Gesetz gab, nach dem die Doktoranden das Gebäude nicht betraten, wenn der Professor nicht zugegen war.
    Bei einem Mann, der zwei Stunden Schlaf nach Belieben durch zehn Minuten Auf-den-Putz-Schauen ersetzen konnte, konnte er das gut nachvollziehen.
    «Pro…» Wolczyk tastete nach dem Lichtschalter, brach aber ab, als die Neonröhren an der Decke widerwillig ansprangen. Stumm starrte der junge Mann auf den Boden des Ganges.
    Halb hinter der Tür lehnte ein dunkelbraunes Etwas an der Wand, aktentaschengroß.
    Es
war
eine Aktentasche.
    Albrecht ging in die Hocke, streckte die Hand aus, zog sie dann jedoch einem Impuls folgend zurück. Beäugte die Tasche von allen Seiten.
    Abgestoßenes Leder, ein verblichener Sticker, eine rote Sonne auf gelbem Grund:
Atomkraft – Nein danke!
    Er sah zu Wolczyk hoch. «Sie kennen diese Tasche.»
    Der Doktorand nickte. Schüttelte den Kopf. Nickte wieder. «Ja, aber …»
    «Demnach ist er doch schon hier», murmelte Albrecht und richtete sich langsam wieder auf.
    «Aber …» Wieder schüttelte Wolczyk den Kopf. «Aber das Fahrrad …»
    «Vielleicht zu Fuß?», schlug der Hauptkommissar vor.
    Wolczyk kniff die Lider zusammen. «Das hab ich noch nie …»
    Übergangslos drehte der junge Mann sich um. Mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er die Treppe hinauf, sodass Albrecht Mühe hatte, ihm zu folgen.
    Der

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