Ich bin der Herr deiner Angst
war niemals in seine Wohnung zurückgekehrt.
Albrecht hatte es geahnt, gewusst.
Die Aktentasche war ein Zeichen gewesen. Irgendjemand musste sie in den Institutsflur gestellt haben.
«Aber warum?», murmelte er.
Der Doktorand sah ihn verständnislos an.
Der Hauptkommissar musste sich zügeln. Er hatte nicht Lehmann oder Winterfeldt vor sich, einen seiner jungen Kollegen, die es gewohnt waren, dass sein Verstand auf seinen eigenen Pfaden unterwegs war. Und die es akzeptierten, wenn sie ihm dorthin nicht folgen konnten.
«Warum hat er die Tasche in den Flur gestellt?», fragte Albrecht.
Wolczyk hatte Tränen in den Augen. «Ich sage doch, das hat er nie …»
«Nicht Möllhaus. Unser Täter. Er muss gewusst haben, dass wir sie entdecken würden.» Albrecht schritt an der Regalfront entlang. Die Bücher standen in Reih und Glied wie brave Soldaten des Wissens. «Genau das hätte er aber ganz simpel verhindern können. Er hätte sie mitnehmen, sie nebenan im Fluss versenken können, wie er das vielleicht mit dem Fahrrad gemacht hat.»
«Das Fahrrad?», flüsterte Wolczyk. «Aber irgendwann hätten wir doch trotzdem gemerkt …»
«Genau. Er gibt sich keinerlei Mühe, seine Taten zu verbergen.» Der Hauptkommissar drehte sich um, schüttelte den Kopf und setzte seine Wanderung fort. «Aber er bestimmt den Zeitpunkt, an dem sie offenbar werden. Er wollte, dass wir diese Tasche zu einem bestimmten Zeitpunkt entdecken und die richtigen Schlüsse ziehen. Deshalb hat er sie nicht einfach verschwinden lassen.
Vor
diesem Zeitpunkt aber sollte uns auf keinen Fall aufgehen, dass Möllhaus sich scheinbar zu einer Uhrzeit im Institut befindet, zu der selbst ein Mann, der fast keinen Schlaf braucht, nicht dort sein dürfte.»
«Aber wer …»
«Ich zum Beispiel. Wenn mir noch etwas eingefallen wäre, das wichtig sein könnte für das Gutachten. Warum ich bei Ihnen im Institut war, konnte er sich ausrechnen. Und wenn ich einen Steinwurf entfernt übernachtet habe, musste er damit rechnen, dass ich noch einmal zurückkommen würde. Sonst wäre ich zurück nach Hamburg gefahren. Das Hotel ist quasi nebenan. Ich hätte einfach vorbeischauen können. Deshalb musste das Fahrrad verschwinden. Wenn es noch dort gestanden hätte: Wäre ich nicht misstrauisch geworden, wenn mir niemand öffnet?»
Vorausgesetzt, ich hätte das Fahrrad mit Möllhaus in Verbindung gebracht, dachte er. Doch das musste der Täter einkalkulieren.
«Aber woher sollte er wissen, wo Sie …»
«Er folgt mir.» Albrecht blieb stehen. «Die ganze Zeit womöglich, über diese verfluchte Landstraße. Oder er besitzt Verbindungen, hat irgendwie erfahren, dass ich hier bin. – Nein, sagen Sie nichts! Er kennt mich.» Leiser. «Er kennt mich ganz genau.»
Wolczyk starrte den Ermittler an, mit offenem Mund. «Und was bedeutet das alles?»
«Das bedeutet …» Jörg Albrecht war es nicht gewohnt, über jeden einzelnen seiner Gedankenschritte Rechenschaft abzulegen. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es ihm half, wenn er gezwungen war, eine Erklärung zu liefern. Ein Schritt ergab sich aus dem anderen. Widersprüche, die er sonst übersehen hätte, wurden plötzlich klar.
«Das Entscheidende ist der Zeitpunkt», murmelte er. «Möllhaus ist weder hier noch im Institut, wo der Täter vermutlich auf ihn gestoßen ist. Das bedeutet, dass er ihn offenbar nicht an Ort und Stelle getötet hat. Unter Umständen hat er ihn überhaupt noch nicht …»
«Sie denken, er …»
«Still!»
Geräusche im Treppenhaus, viel lauter als vorher. Dann, plötzlich, brachen sie ab. Flüstern. Männerstimmen.
Albrechts Hand bewegte sich an die Stelle, an der sich seine Dienstpistole befand, wenn er sie denn einmal mit sich führte.
Das war heute nicht der Fall.
Er schob Wolczyk zurück ins Wohnzimmer.
Das langgestreckte Rechteck des Eingangskorridors endete an der demolierten Tür. Dort waren Schatten. Schatten, die sich bewegten.
Ein Schritt nach vorn. Im selben Moment gab sich auch einer der Schatten einen Ruck.
Das Deckenlicht flackerte auf.
Ein Mann um die sechzig, deutlich untersetzt, puterrotes Gesicht. Und ein auffallend hässlicher Dufflecoat.
«Was tun Sie hier?»
Das waren beide zugleich.
Albrechts Hand fuhr in seine Manteltasche. Der Unbekannte: im selben Moment dieselbe Bewegung.
«Kriminalhauptkommissar Jörg Albrecht, Kripo Hamburg!»
«Kriminalhauptkommissar Horst Rabeck, Kripo Niedersachsen!»
Sie starrten auf ihre Dienstmarken,
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