Ich bin der Herr deiner Angst
Schlüssel zur Glastür passte beim ersten Mal.
Die Institutsräume waren menschenleer.
Der junge Mann sagte kein Wort, während sie jedes Zimmer noch einmal kontrollierten, als letztes die Damentoilette. Keine Spur von Hartmut Möllhaus. Die Tür seines Büros stand offen, doch offenbar war das kein ungewohntes Bild. Wolczyk hatte nicht gestutzt.
Zehn Minuten nach sieben. Sie standen wieder im Eingangsflur, und auf eine nicht zu beschreibende Weise hatte sich die Atmosphäre des langgestreckten Raumes verändert.
Langsam löste sich ein Schatten aus einem Winkel von Jörg Albrechts Verstand, kam ganz allmählich näher.
«Haben Sie seine Handynummer?», fragte der Hauptkommissar.
Wolczyk schüttelte mechanisch den Kopf. «Kein Handy», murmelte er. «Keine Nummer.»
Wieder starrte er auf die Tasche, als hätte er eine Erscheinung, und machte einen Schritt auf sie zu.
«Nicht anfassen!», sagte Albrecht scharf.
Die Verwirrung im Blick des jungen Mannes wuchs. «Denken Sie, sie ist … gefährlich?»
«Ich denke …» Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. «Haben Sie es schon mal erlebt, dass er die Tasche hier unten hat stehen lassen?»
«Nie.» Ohne zu überlegen. «Hier würde niemand irgendwas stehen lassen. Bei den ganzen unterschiedlichen Einrichtungen, die im Gebäude untergebracht sind. Seminarräume und sonstwas.»
«Und doch steht sie hier», murmelte Albrecht.
«Aber das Fahrrad ist nicht da! Ich hab noch nie erlebt, dass er zu Fuß gekommen ist. Nicht mal im Winter.»
Der Hauptkommissar biss die Zähne zusammen.
«Sie kennen seine Adresse?»
«Klar.» Verwirrt sah Wolczyk den Ermittler an. «Er wohnt in der Altstadt.»
«Wir nehmen den Wagen!»
***
Der Fluss bin ich, dachte Jörg Albrecht.
Wo ich das Ufer berühre, bringe ich die Menschen in Gefahr.
Aber er hatte Möllhaus kaum gekannt!
«Das ergibt keinen Sinn», murmelte er. «Die Oker fließt nicht mal zur Elbe.»
Jonas Wolczyk warf ihm einen Seitenblick zu, der keine Fragen offen ließ.
Der junge Mann lotste den Hauptkommissar Richtung Innenstadt. Ein Albtraum von Einbahnstraßen und Sackgassen. Das Navigationsgerät hatte Albrecht erst gar nicht angestellt. Wolczyk würde ihn später wieder ins Freie führen müssen.
Die Aktentasche des Professors lag jetzt im Kofferraum, in einem transparenten Spurensicherungsbeutel, den Albrecht in den Innereien seines Dienstfahrzeugs aufgetan hatte.
«Dort vorne», murmelte Wolczyk. «Rechte Seite.»
Ein Altbau, hundert Jahre auf dem Buckel oder mehr, schieferverkleidet, vierstöckig. In der Straße herrschte Halteverbot.
Der Ermittler parkte unmittelbar vor der Tür.
Wolczyk öffnete den Mund, schien es sich aber im letzten Moment anders zu überlegen.
Sechs Parteien teilten sich das Gebäude. Albrecht drückte sämtliche Klingeln zugleich.
Nach fünf Sekunden ertönte ein summender Laut, die Tür sprang auf.
«Wo wohnt er?»
«Ganz oben … Es gibt keinen Fahrstuhl.»
Albrecht war bereits auf dem Treppenabsatz. Eine Gestalt mit Kopftuch streckte den Kopf auf den Flur.
«Polizeiliche Ermittlung!» Er hielt ihr seine Marke entgegen, war schon vorbei. «Bleiben Sie in der Wohnung!»
Drei Etagen weiter. Die Tür zu Möllhaus’ Wohnung. Schnitzereien im Jugendstil, alt wie das Gebäude selbst.
Es gab eine zusätzliche Klingel. Albrecht hielt sie dreißig Sekunden lang gedrückt.
Schweigen. Noch einmal dreißig Sekunden.
Albrecht musterte das Holz. «Wir brechen sie auf.»
Wolczyk starrte den Ermittler an. «Das können wir nicht machen! Der Hausmeister …» Albrecht sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte.
«Wir haben keine Zeit für den Hausmeister!»
Irgendwo weiter unten im Treppenhaus wurde es lebendig. Jörg Albrecht hatte kein Interesse an zusätzlichen Diskussionen, schob Wolczyk beiseite, nahm Anlauf, so weit es der Treppenabsatz zuließ, und warf sich gegen die Tür.
Ein Feuerball explodierte in seiner Hüfte, doch er hatte die Verhältnisse richtig eingeschätzt. Sie gab beim ersten Versuch nach.
Der Hauptkommissar stolperte in einen unbeleuchteten Flur.
Mehrere Türen am Ende, eine von ihnen stand offen. Ein Hauch von grauem Morgenlicht.
«Sie bleiben zurück!», wies er den jüngeren Mann an.
«Professor?» Wolczyks Stimme, unsicher, eine halbe Oktave höher als sonst.
Er ist nicht hier, dachte Albrecht.
Ein Wohnzimmer, das quasi komplett aus Bücherwänden bestand. Auf einem Tisch eine offene Reisetasche, daneben ein Wäschestapel.
Hartmut Möllhaus
Weitere Kostenlose Bücher