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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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gehalten. Ich bin zu Hause und schneide Bandagen zu.
    Als ich zu bluten begann, hatte mir der Colonel ähnliche Bandagen gebracht. Ich hatte ihn fragen müssen, andernfalls wäre er zornig geworden.
    Nach meiner ersten Blutung begannen die Berührungen.
    Es geschah zum Beispiel, wenn ich auf dem Boden hockte und Geschirr in einem Kübel wusch. Wenn ich aufstand, war er plötzlich hinter mir und drückte seinen Körper gegen meinen. Dann ging er hinaus und blieb lange fort.
    Oder ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf, er stand am Bett und strich mit der Hand mein Bein entlang. Bemerkte er, dass ich wach war, ließ er von mir ab.
    VIII
    Als wir endlich ins Bett fallen, ist es schon beinahe Morgen. Wir haben es Darrel so bequem wie möglich gemacht und ihm eine ordentliche Dosis Whisky verabreicht.
    Jetzt lässt Mutter ihre Tränen endlich zu.
    »Wenigstens ist Darrel zu mir zurückgekehrt«, sagt sie. Ihre Vertrautheit erstaunt mich, die Ironie nicht. Daran bin ich seit langem gewöhnt.
    Sie blickt mich aus roten, verquollenen Augen an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
    »Danke.«
    IX
    Nach ein paar Wochen hatte ich einen Fluchtversuch unternommen. Ich hatte bemerkt, dass er morgens immer für einige Zeit in den Wald ging, um zu tun, was immer er dort zu tun hatte. Also nahm ich allen Mut zusammen und verließ die Hütte. Auf Zehenspitzen schlich ich in die entgegengesetzte Richtung. Nach zwanzig Schritten begann ich zu rennen. Nach fünfzig Schritten hatte er mich bereits gepackt. Ich hatte ihn nicht herankommen sehen. Er warf mich auf den Rücken. Zwischen den Zähnen klemmte sein Jagdmesser.
    Er zerrte mich zur Hütte zurück. Mein Schluchzen übertönte er mit Pfeifen. Er sperrte mich in den Keller, wo ich zwei Tage ohne Essen verbringen musste und ohne die Möglichkeit, die Toilette aufzusuchen.
    X
    Hatte ich all das vergessen, als ich in den Wald ging, um mich selbst gegen dein Leben einzutauschen? Wieso lagen all diese Erinnerungen so lange im Dunkeln verborgen und wieso kommen sie jetzt zurück?
    XI
    Er ist tot. Er schläft nicht wie sonst mit dem Messer im Schoß in seinem Stuhl, mit dem er immer die Tür verbarrikadiert. Er ist tot. Ausgelöscht. Es gibt keine Leiche, die man begraben könnte. Keine sterblichen Überreste.
    Ich stelle mir vor, wie seine langen grauen Haare Feuer fangen und verbrennen, wie die Flammen seinen Kopf, seinen Körper, seine Hände erreichen.
    Ich kann diese Vorstellung nicht genießen. Sein Körper wird zu deinem Körper, seine Hände werden zu deinen Händen.
    XII
    Bei Sonnenaufgang schnarcht Darrel noch, während Mutter schon an seinem Bett steht und sorgenvoll seinen Fuß betrachtet. Mein ganzer Körper schmerzt, aber das ist nicht von Bedeutung. Ich wurde nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ich habe nicht einmal gekämpft. Ich habe nur einen Waldspaziergang gemacht.
    Ich bin am Leben! Das ist etwas wert.
    Ich bin gespannt, was heute in Roswell Station geschehen wird. Schnell ziehe ich mich an und erledige die Hausarbeit. Es ist wundervoll, Fee in der Scheune zu sehen. Wir hatten kein Pferd mehr, seit ich ein kleines Mädchen und Vater noch am Leben war. Old Ben ist lange tot. Mit seinem alten Striegel putze ich Fee.
    Dann kraule ich Jip, bis er sich auf den Rücken legt und darum bettelt, dass ich seinen Bauch streichele. Du lebst! Jip und ich dürfen uns freuen.
    Als ich zurück ins Haus komme, erklärt Goody Pruett Mutter gerade alles über Blutegel und Verbände. Der verletzte Kriegsheld ist inzwischen aufgewacht und stöhnt besonders laut, um unsere verwitwete Nachbarin zu beeindrucken. Ich will unbemerkt wieder hinausschleichen, aber Goodys glänzenden schwarzen Augen entgeht nichts. Warum habe ich immer das Gefühl, sie weiß, woher ich komme und wohin ich gehe?
    Ich mache mich auf den Weg ins Dorf.
    Haben wir das Recht auf einen so strahlenden Morgen? Sollte der Himmel sich nicht dieses strahlenden Blaus schämen, das mit den rotorangen Blättern und dem von Raureif überzogenen Gras kontrastiert? Wann rochen Rauch und Heu je so süß? Wann fühlten sich frisch gesammelte Eier je so warm in meiner Hand an? Wann war die Milch unserer faulen alten Kuh je so sahnig?
    Die Kuh weiß nicht, wie ihr geschieht. Mit einem Mal muss sie die Scheune mit Fee teilen.
    XIII
    Ich lege einen Korb Eier und ein paar Äpfel in die Schubkarre und mache mich schnell auf den Weg ins Dorf. Ich brauche schließlich einen Grund. Ich gehe an deinem Haus vorbei, aber du bist nicht da.

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