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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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verantwortlich gemacht, das seit seinem Weggang geschehen ist.
    Das Handgemenge erinnerte mich an etwas, aber ich weiß nicht, woran. Es war wie eine bekannte Melodie, die an den Moment erinnert, in dem man sie zum ersten Mal gehört hat. Man weiß genau, was man damals empfand, aber in der Gegenwart ergeben diese Gefühle keinen Sinn.
    XCIII
    Ein paar Männer halten Abijah Pratt zurück. Dein Vater umkreist die Gruppe wie ein wildes Tier, bereit zum Angriff.
    Abijah Pratt versucht sich loszureißen, um den Colonel wieder zu attackieren.
    Aus der Klamm dringen immer noch Schüsse. Wie in Trance blickt dein Vater an Abijah vorbei in Richtung des Kampfgetümmels. Er hebt das Bündel auf, das er in der Hand gehalten hatte, und macht sich fieberhaft daran zu schaffen. Die anderen Männer beobachten ihn stumm, als seien auch sie in Trance geraten.
    Ein Funken, dann noch einer. Der Oberst hält sein Werk hoch und bedeutet den Umstehenden, sich zurückzuziehen. Er fixiert etwas tief in der Schlucht und läuft hinkend los.
    Wir begreifen beide im selben Moment. Ich weiß, was er vorhat. Dein »Nein!« können noch die Frauen und Kinder der Homelander auf der anderen Seite des Ozeans hören.
    Du rennst los, um ihn aufzuhalten.
    Nein.
    Er springt von der Klippe. Einen Augenblick lang drehen sich seine Beine in der Luft.
    Dann sieht man ihn nicht mehr.
    Du wirfst dich nach vorne.
    Nein.
    Mr Johnson stellt sich dir in den Weg. Du stürzt mit ihm zu Boden.
    Ein Donnern erschüttert die Erde. Für einen kurzen Moment ist es so hell wie sonst nur in der Mittagssonne.
    Schemenhaft sehe ich, wie man euch beide vom lodernden Abgrund wegzieht.
    Jetzt ist auch vom letzten der drei Schiffe nur noch Asche übrig. Genau wie von deinem Vater.
    XCIV
    Die letzte Explosion lässt alle vorherigen klein erscheinen.
    Die Schreie, die vom Flussbett heraufdringen, graben sich für immer in mein Gedächtnis und lassen mich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifeln.
    Zu wissen, dass sie uns das Gleiche angetan hätten, wenn es ihnen möglich gewesen wäre – ist das Grund genug? Wäre dir heute nicht dieses Wunder gelungen, hätten sie es getan. Wir zwei sind gute Krieger, du und ich.
    XCV
    Sie halten dich fest, obwohl du dich nach Kräften wehrst. Sie lassen dich nicht los, bis sie sicher sind, dass du ihm nicht hinterherspringen wirst. Gesegnet seien die Männer, die dich beschützen.
    Im Schein des Feuers sehe ich, wie du nach mir Ausschau hältst. Als du mich entdeckst, sehen wir einander an.
    Wir wissen es beide. Wir spüren es beide.
    XCVI
    Er ist tot.
    Ein schneller Tod. Kein Leiden, kein Warten, kein Erinnern.
    Seine Geschichte wird man sich noch viele Generationen später erzählen. Er ist der Held, der in Flammen aufging.
    Für mich ist er eher ein Feigling, der wie eine lodernde Sonne starb und sich damit Ruhm und Unsterblichkeit sicherte. Er hätte es verdient, seine Sünden zu beichten und langsam ins Grab zu sinken.
    Sein Gesicht werde ich von nun an nur noch in Albträumen sehen. Von dem Versprechen, das ich ihm gab, bin ich entbunden. Er kann mich nie wieder bedrohen oder ängstigen.
    Doch warum weine ich nun über seinen Tod?
    XCVII
    Der Rauch frisst ein Loch in den dunklen Himmel.
    Darrel liegt verstümmelt vor mir.
    Dein Vater ist tot.
    Die Homelander sind vernichtet. Ihre Körper fliegen hinauf zu den Sternen. Ich muss nicht sehen, was ich getan habe.
    Mit Fackeln suchen die Überlebenden nach Verletzten und Toten.
    Der Fluss rauscht über die tintenschwarzen Steine und singt sein ewiges Lied.
    Und wir beide sind noch am Leben in dieser Nacht,
    du
    und ich.

Z WEITES B UCH
    I
    Das Pferd. Die gesprenkelte Stute. Wohin sie wohl in diesem Chaos verschwunden ist? Ich habe nicht die Kraft, nach ihr zu pfeifen.
    Ich schüttele meinen Bruder, stecke zwei Finger in den Mund und versuche es dennoch.
    »Hä?«
    Es ist entsetzlich.
    Ich tippe ihn an, bewege den Kopf nach oben und unten, puste durch die Lippen. Sobald ich mich verständlich machen will, werde ich zum Clown.
    »Pfeifen?«
    Ich nicke.
    »Ich soll pfeifen?«
    Ich nicke so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekomme.
    »Warum denn?«
    Ich könnte mir die Haare ausreißen. Oder – noch besser – ihm. Ich versetze ihm einen Stoß. Mach schon, du Idiot. Ich kann dich nicht nach Hause tragen.
    Er zuckt die Schultern und steckt sich die schmutzigen Finger in den Mund. Sein Pfiff verstärkt meine Kopfschmerzen noch. Pfeifen gehört zu den wenigen Dingen, die er wirklich gut kann.

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