Ich bin die, die niemand sieht
besteht, dann durch ihre Behandlung.
Selbst wenn ich eine Zunge hätte, könnte ich Darrel nicht zur Vernunft bringen. Deshalb setze ich mich hinter ihn aufs Bett und halte seine Arme fest, sodass er nicht mehr nach Mutter schlagen kann. Er ist stärker als ich, aber ich ramme ihm mein Kinn in den Rücken.
»Genau so«, lobt Mutter.
Darrel rächt sich, indem er den Kopf abrupt nach hinten reißt. Mein Schädel knallt gegen das Kopfteil des Bettes.
»Jetzt hast du mich nass gespritzt«, beschwert sich Mutter. Mein Kopf tut so weh, dass ich den Schmerz kaum spüre.
Ich kann ein Dorf retten und mein Herz besiegen, aber weder Mutter noch ich oder die gesamte Flotte der Homelander können meinen Bruder zu etwas zwingen, was er nicht will.
Der Kampf um Darrels Fuß hat begonnen.
XIX
Das mit dem Anfassen wurde schlimmer. Ich versuchte, es zu vermeiden, indem ich gebückt ging, mich klein machte und ruhig verhielt. Aber es nützte nichts. Er ließ mich nie aus den Augen, nicht einmal nachts. Er hörte mit dem Trinken auf, damit er mich Tag und Nacht anstarren konnte. Wann auch immer ich ihn ansah – mein Blick traf seinen. Die ständige Angst krampfte meinen Magen zusammen und war auch nicht leichter zu ertragen, als sie mir irgendwann vertraut geworden war.
Eines Tages ging ich gerade an ihm vorbei, als er vom Stuhl aufsprang. Er warf mich aufs Bett und drückte seinen schalen Mund auf meine Lippen. Er zerrte an meinem Kleid, drückte meine Brüste und schob meinen Rocksaum nach oben.
Jetzt passiert es, dachte ich und lag da, regungslos und wie betäubt, ich wusste selbst nicht, warum.
Doch mit einem Mal ließ er von mir ab. Brüllend erhob er sich und stürzte aus der Hütte.
Ich richtete mich auf, zupfte an meinem zerstörten Kleid herum und überlegte, wie es sich reparieren ließe.
Von draußen kam das Geräusch spritzenden Wassers. Die Tür wurde aufgerissen und da stand er, tropfnass, speckig, das Wasser aus der Regentonne lief an ihm herunter.
Er erzählte etwas von der Heiligen Jungfrau.
Dann warf er mich wieder aufs Bett, drückte meinen Mund auf, zog sein Messer und brachte mich zum Schweigen. Dabei schrie er: »Nie wieder, nie wieder!«
XX
Ich habe nicht gesehen, wie du Jip abgeholt hast. Wahrscheinlich war ich gerade im Haus und habe die Wäsche erledigt.
»Wir können uns kein Pferd leisten«, verkündet Mutter beim Abendessen. Unser »Abendessen« besteht aus drei gerösteten Kartoffeln. Mehr bekommen wir nicht hinunter. Darrel rührt seine Portion nicht einmal an. Die Kartoffeln sind verbrannt und stinken. Genau wie die Kräuter, mit denen Mutter Darrels Fuß behandelt hat. Der Geruch bereitet mir Kopfschmerzen.
»Woher hast du das Pferd überhaupt?«
Nach solchen Fragen macht sie immer eine Pause, als warte sie auf eine Antwort. Dann schnaubt sie kurz, als sei ich selbst an meinem Schweigen schuld. So erinnert sie mich immer an meinen Makel und daran, welche Bürde er für sie bedeutet.
»Ich will nicht, dass wir Pferdediebe anlocken. Gehörte es einem der Kämpfer aus Pinkerton?«
»Nein, Mutter«, sagt Darrel.
Nur mit Mühe verberge ich meine Überraschung.
»Es ist jetzt Wurms Pferd, wenn sie es möchte.«
Woher weiß er das? Was hat er gesehen?
»Nun, sie möchte es nicht«, stellt Mutter fest, »denn wir können es uns nicht leisten, und damit Schluss.«
Der Geruch von Rauch und staubigen Kräutern erstickt mich beinahe.
Darrel wirft sich auf dem Bett hin und her. »Es ist ein schönes Tier. Es wäre eine Schande, es loszuwerden. Im Winter könnte es mir noch nützlich sein, mit meinem verletzten Fuß.«
Sie sieht ihn böse an. »Und du willst dich um seinen Unterhalt kümmern?«
Als ich gehe, blickt sie nicht auf.
XXI
Es ist stockdunkel, aber ich muss nach draußen. Ich würde heute lieber im Stroh neben Fee schlafen, statt Mutter noch länger zuzuhören.
Die Sterne funkeln, die Luft ist kalt und klar. Sie beruhigt mich. Ich lehne mich gegen den Zaun. Ein Teil meiner Wut fliegt mit dem Wind davon.
Die Schubkarre. Ich habe sie nicht wiedergeholt.
Bist du zurück?
Einige der Männer müssen auf jeden Fall zurück sein. Sind die Planwagen schon wieder da? Die Rettungsarbeiten müssten doch inzwischen vorbei sein.
Ich muss den Weg nicht sehen, um ihn zu finden. Ich hätte ein Tuch gegen die Kälte umlegen sollen, aber deshalb will ich nicht zurückgehen.
Dein Haus ist dunkel. Aber du schläfst bestimmt noch nicht. Vielleicht bist du im Dorf? Meine Schritte
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