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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Einige Männer kommen zu uns herüber.
    »Sie wollte, dass ich pfeife«, erklärt er ihnen und schaut dabei drein, als müsse er sich mit einer Verrückten auseinandersetzen.
    Hinter mir raschelt es. Ich schleiche durch das Gebüsch und schiebe die Weidenzweige beiseite wie eine Schwimmerin.
    Ich kann die Stute nicht sehen, aber ich spüre sie. Den süßen, staubigen Geruch ihres Fells, das Geräusch ihres Atems. Ein Wunder, dass sie während der Explosionen nicht geflohen ist.
    Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber ich könnte sie ohnehin nicht beim Namen rufen. In meiner Vorstellung gleicht sie eher einem Schatten oder einem Traum als einem Tier aus Fleisch und Blut. Ich taufe sie Fee.
    Sanft murmelnd und mit ausgestreckten Händen nähere ich mich ihr. Sie stößt einen Warnlaut aus. Ich halte inne und murmle beruhigende Laute. Sie macht einen winzigen Schritt in meine Richtung.
    Du hübsche, hübsche Fee, erinnerst du dich an mich?
    Ihre feuchten Nüstern erkunden mein Gesicht, mein Haar. Ich streichle sanft über ihr raues Fell.
    Dann befreie ich sie von dem kleinen Karren und führe sie sanft zu Darrel. In Gedanken bitte ich sie, meinen Bruder an einen sicheren Ort zu bringen, und danke ihr dafür, dass sie zu mir gekommen ist.
    Sie senkt den Kopf und stapft mit einem Huf auf.
    Wir sprechen die gleiche Sprache.
    II
    Wieder schiebe ich meine Arme von hinten unter Darrels Schultern. Wenn Mutter ihm beim Abendessen doch nicht immer die größte Portion gäbe! Er ist so schwer, dass ich ihn nur mit Mühe aufrichten kann. Aus eigener Kraft wird er jedenfalls nicht auf ein Pferd steigen können. Er kann sich nur mit Armen und Oberkörper an Fees Rücken lehnen. Ich nehme seinen gesunden Fuß und drücke ihn kräftig nach oben. Er protestiert. Mit viel Mühe gelingt es mir schließlich, ihn auf Fees Rücken zu wuchten.
    Die Männer laufen mit Fackeln umher. Vierzehn Tote, sagt einer. Sechzehn, zählt ein anderer. Sie beraten sich. Es gibt zu viele Verletzte, die den Fußweg nach Hause nicht schaffen würden. Wo verbringt man die Nacht? Was geschieht mit den Toten und Verwundeten? Wer benachrichtigt das Dorf von unserem Sieg?
    Ich könnte die Botin spielen – wenn Darrel alles erklären könnte oder jemand ein Stück Papier hätte. Darrel fiebert. Ich bin nicht sicher, ob er die Ereignisse der heutigen Nacht begriffen hat. Ich führe Fee fort. Niemand macht Anstalten, uns aufzuhalten oder zu fragen, wohin wir gehen.
    Fee will, dass ich sie zur Hütte des Colonels zurückbringe. Ich überlege. Es wäre näher und wir müssten den Fluss nicht überqueren. Außerdem will ich wissen, was in der Hütte ist. Vielleicht hatte er eine Katze oder ein anderes Tier, um das man sich kümmern muss?
    Ich werde Geduld brauchen. Ich locke Fee nach Hause, zurück zu Mutter, die inzwischen vor Sorge halb verrückt sein muss.
    In der Dunkelheit brauchen wir fast eine Stunde bis zu der Stelle, an der wir den Fluss durchqueren können. Darrel stöhnt und zittert vor Schmerz und Müdigkeit. In der Nacht kann ich die Stromschnellen nur hören. Auf den glitschigen, unsichtbaren Felsen könnte ein Pferd oder ein Mädchen allzu leicht stürzen und sich den Knöchel brechen. Ich bleibe stehen und liebkose Fee. Ich erkläre ihr, was sie tun soll und das ich nichts von ihr verlange, was ich nicht auch von mir selbst erwarte. Ich halte sie fest am Zaumzeug und führe sie in den Fluss.
    Ich verfehle einen Felsen und stehe plötzlich bis zu den Knien im eisigen Wasser. Fee lehnt sich sachte in meine Richtung und ich stütze mich auf sie. Gemeinsam kämpfen wir uns durch das glitschige Flussbett, bis wir erst Schlamm und dann trockenen Grund unter unseren Füßen spüren. Einmal stürze ich beinahe, doch sie packt meine Kleidung mit den Zähnen und hält mich.
    Fängst du mich auf, schönes Mädchen? Weißt du schon, dass du jetzt zu mir gehörst?
    III
    Er ist tot. Dein Vater, mein Wärter, mein Folterknecht, der Retter des Dorfs. Ich habe ihn um Hilfe gebeten und in den Tod geführt. Er hatte nichts Besseres verdient. Aber das ist nun bedeutungslos. Er ist tot.
    Einmal gab er mir ein Kleid. Er hatte es einer Gruppe Reisender auf dem Weg nach Pinkerton gestohlen, damit niemand in Roswell Station ein fehlendes Kleid bemerken würde.
    »Dein altes platzt aus allen Nähten, obwohl du kaum etwas isst«, sagte er und warf mir das zerknitterte Wollbündel zu. Ich wartete, aber er machte keine Anstalten, zu gehen. »Worauf wartest du?«, fragte er. »Zieh

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