Ich bin die, die niemand sieht
Natürlich nicht. Du bist an der Schlucht geblieben, um den Verwundeten zu helfen.
Im Dorf stehen alle Haustüren offen. Die Frauen stehen in Grüppchen zusammen und reden. Sie tragen noch ihre Nachthemden, die Kinder laufen ungewaschen herum. Alles ist durcheinander, niemand denkt an die täglichen Pflichten. Anscheinend ist die Nachricht noch nicht bis ins Dorf vorgedrungen. Die Leute starren mich an, als wollten sie mich fragen, doch dann fällt ihnen ein, dass ich stumm bin. Und woher sollte ich auch Neuigkeiten haben? Sie wissen schließlich nicht, wo ich war. Sie halten mich für grausam, weil ich am Tag des Untergangs Waren verkaufen will.
Maria wagt sich aus dem Haus. Sie ist totenblass. Sie trägt ein dunkles, schlichtes Kleid, als trauere sie schon. Sie sieht mich durchdringend an. Wie Goody Pruett weiß auch sie, dass ich etwas weiß. Sie macht einen Schritt in meine Richtung.
Ich fühle mich ihr nahe, weil wir beide dich lieben. Ich will Maria an den Händen fassen und ihr die frohe Nach richt überbringen: Lucas geht es gut, er kommt nach Hause! Dass du überlebt hast ist ein Geschenk, das unsere Rivalität bedeutungslos macht. Als könnte ich je Marias Rivalin sein!
Gerade als wir einander gegenüberstehen, hören wir Schritte und Pfeifen. Alle im Dorf halten inne. Sind es unsere Feinde? Nur ich kenne das Geheimnis und es frisst mich beinahe auf. Jetzt sind die Männer zu erkennen. In Zweierreihen tragen sie die Verwundeten ins Dorf. Wer kann, ruft nach der Familie, wer es nicht kann, liegt verletzt und bewusstlos auf einer der Tragen. Mit geschürzten Röcken und laut rufend laufen die Frauen los. Maria wartet am längsten, dann rennt auch sie auf die Männer zu. Ich lasse Eier und Äpfel stehen und schließe mich den Frauen an.
Alle weinen. Ehepaare umarmen einander. Männer suchen nach ihren Frauen, die in den Wald geflohen waren. Da sind der Lehrer, der Schmied, der Priester und ganz hinten du. Gemeinsam mit Abijah Pratt trägst du Leon Cartwright.
Maria entdeckt dich in der Menge und läuft auf dich zu. Der Anblick schnürt mir den Hals zu.
Als du Maria siehst, bleibst du stehen. Du wirkst, als koste es dich ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung, Leon Carthwright nicht einfach fallen zu lassen und Maria in die Arme zu schließen.
Sie stürzt an dir vorbei zu Leon und umfasst sein Gesicht mit beiden Händen.
»Leon!«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
»Ist er tot?«
Ich gehe näher heran. Inmitten des Stimmengewirrs bemerkt mich niemand.
Auf einen Gehstock gestützt kommt Mr Cartwright hinzu.
»Nein«, antwortest du. »Er ist nicht tot. Sein Bein ist verletzt. Er hat in der Nacht viel Blut verloren. Aber er lebt.«
Maria weint bitterlich.
Gemeinsam mit Abijah legst du Leon auf den Boden. Maria streichelt ihn am ganzen Körper und ruft seinen Namen. Er öffnet die Augen.
»Maria?«, presst er durch aufgesprungene Lippen hervor.
Sie vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals und schluchzt. Kraftlos legt er den Arm um sie.
Alle außer dir sehen weg. Du blickst auf deine künftige Braut hinab, auf ihre dunklen Locken, die unter der gestärkten weißen Haube hervorquellen.
Marias am Arm verletzter Vater kommt hinzu. Sein Blick wandert zwischen dir und seiner Tochter hin und her. Mit feuchten Augen versucht er, dich wegzuführen, aber du bewegst dich nicht vom Fleck. Du bleibst stehen, bis Maria sich aufrichtet. Sie schluchzt immer noch und hält den Blick gesenkt. Sie schafft es nicht, die Umstehenden anzusehen. Ihr Blick sucht wieder Leon, der jetzt etwas Farbe bekommen hat. Sie wischt sich die Tränen ab.
Erst jetzt drehst du dich um und verschwindest in der Menge.
XIV
Du schickst einen Reiter, der die Flüchtlinge zurückbringen soll. Du hilfst den Verwundeten nach Hause und organisierst Helfer, um die übrigen Toten heimzuholen. Den Frauen, die gerade Witwen geworden sind, berichtest du von den Heldentaten ihrer Männer: Indem sie ihre Leben opferten, hätten sie Roswell Station gerettet.
Alderman Brown steht dabei und beobachtet dich.
Du trägst Leon in das Haus von Marias Vater. Durch das Stubenfenster sehe ich, wie du ihn auf das Sofa legst, dem Vater die Hand schüttelst, dich von Maria und ihrer Mutter verabschiedest – und gehst.
XV
Wenn du mein wärst, würde ich dich trösten. Wenn du mein wärst, bräuchtest du keinen Trost!
Dein starkes Herz trug unwissentlich ihren Liebhaber nach Hause und kümmert sich nun um die Verwundeten und die Begräbnisse der Toten. Dein
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