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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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auffällt. Mr Gillis hält uns die Tür auf, während ich Darrel die glatten Stufen hinunterhelfe. Dann eilt er uns nach und hilft mir, Darrel hinzusetzen.
    »Gut, dass Sie wieder da sind, Master Finch.« Er umschließt meine Hand mit seinen Händen und fixiert meinen Blick. »Es ist mir eine Ehre, Sie als neue Schülerin zu haben.«
    Verdeckt von seiner oberen Hand, sodass es niemand sehen kann, streichelt er mit der Fingerspitze langsam meine Handfläche.
    XIX
    Solche Dinge hat der Colonel auch getan. Er strich mit der Hand meinen Arm entlang. Streichelte meinen Hals mit Daumen und Zeigefinger, genau unter dem Kieferknochen. Fuhr mit dem Nagel meine Fußsohle entlang, wenn ich auf dem Bett lag.
    XX
    So schnell wie möglich ziehe ich Darrel nach Hause. Zweimal beschwert er sich sogar, dass der Schlitten wackelt. Die Sonne gibt sich alle Mühe, den Schnee zu schmelzen, aber das Eis von letzter Nacht ist schier undurchdringlich. Inzwischen ist es von einer dünnen Schicht Wasser bedeckt. So stolpere und rutsche ich bei jedem Schritt, finde nirgends Halt und schaffe es kaum, den Schlitten vorwärts zu bewegen. Einmal fällt Darrel vom Schlitten und wird völlig durchnässt. Solch ein Missgeschick ist Öl in Mutters Feuer.
    Ich habe solche Angst davor, morgen wieder zur Schule zu gehen. Ich werde es nicht tun. Ich muss es nicht tun.
    Und das wäre eine ganze Flasche Öl im Feuer.
    Ich hieve Darrel zurück auf den Schlitten und setze meinen Weg fort.
    XXI
    Ich dachte, wenn ich lesen und schreiben kann, könnte ich mir ein paar Bücher und Papier besorgen, bevor ich im Frühling in die Hütte ziehe. Dann könnte ich die Stunden, in denen ich nicht gerade mein Überleben sichern muss, mit Lernen und Denken verbringen. Ich dachte, dass Wort e Trost spenden können.
    Doch mittlerweile denke ich, dass Trost nur ein Hirngespinst ist.
    XXII
    Mutter sagt nichts darüber, dass wir in der Schule waren, aber ihr Blick ist triumphierend. Sie glaubt, wir seien früher zurückgekommen, weil unser Experiment fehlgeschlagen ist. Aber weder Darrel noch ich gönnen ihr diesen Sieg. So müde Darrel auch ist, er sitzt den ganzen Nachmittag am Feuer, putzt Mais und sortiert Bohnen.
    Ich sitze gegenüber und stricke ein paar dicke Strümpfe. Die regelmäßige Bewegung des Garns zwischen meinen Fingern beruhigt mich. Vorhin habe ich Darrel heimlich die Büchertasche geschenkt. Er hat sich gefreut. Mutter weiß jetzt von unserem Plan, die Schule zu besuchen, also braucht Darrel die Tasche nicht zu verstecken.
    »Es war gut, wieder mit den Klassenkameraden zusammen zu sein«, verkündet Darrel laut. »Es sieht nicht so aus, als sei ich besonders weit zurückgefallen.«
    Mutter wringt Waschwasser aus einem von Darrels Hemden.
    »Es war wirklich nett von Judith, dass sie mich hingebracht hat«, fährt er fort. »Ich stehe in ihrer Schuld. Und stell dir vor: Mr Gillis hat sie gleich neben sich gesetzt, damit er sie gut anleiten kann.«
    Jetzt sieht Mutter mich an.
    »Sei bloß höflich zum Herrn Lehrer.« Sie wedelt mit dem nassen Hemd in meine Richtung.
    Ich zeige nicht mehr Gefühle als mein Wollknäuel.
    »Vielleicht gefällst du ihm ja, so Gott will. Also tu, was er sagt.« Sie taucht ein weiteres Hemd in den Eimer.
    Darrel hört mit offenem Mund zu. »Mutter, Mr Gillis hat kein Interesse an Judith.«
    »Als wüsstest du es, wenn er welches hätte.« Mutters Arme stecken tief im Waschzuber. »Sie muss an ihre Zukunft denken und am besten denkt sie klug.«
    XXIII
    Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Ich bin hin und her gerissen. Einerseits fürchte ich mich davor, auch nur eine weitere Stunde neben Rupert Gillis zu sitzen. Ich fürchte mich davor, dass Mutter mich mit ihm verkuppeln will.
    Andererseits habe ich Angst, dass sie das Scheitern unserer Schulpläne genießen könnte. Und ich will Darrel nicht enttäuschen, so sehr er mich auch oft ärgert.
    Noch einen Tag. Ich habe jahrelang Schlimmeres ausgehalten als Rupert Gillis. Einen Tag werde ich schon noch schaffen.
    XXIV
    »Wann hast zu angefangen zu sprechen, Judith?«, fragt Darrel mich am nächsten Morgen auf dem Weg in die Stadt.
    Ich bleibe stehen und werfe ihm einen bösen Blick zu. Dann übe ich lautlos die Wörter, die ich gleich sagen will. »Bevor du geboren wurdhesth«, sage ich so ernsthaft wie möglich.
    Darrel lacht. »Das weiß ich doch. Ich meine, seitdem. Du weißt schon. Die ganze Zeit sagst du nichts und plötzlich fängst du an zu sprechen. Warum?«
    Ich überlege,

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