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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Pult.
    XXVIII
    Du lehnst an einem Baum. Jip springt zwischen deinen Füßen herum. Der gute alte Jip.
    »Guten Abend, äh, Miss Finch.« Du streckst mir die Hand hin und zögerst dann doch, als sei dir etwas peinlich. Ich nehme sie dennoch und schüttele sie.
    Darrels Kameraden, zwei großgewachsene Jungs, helfen ihm nach draußen, setzen ihn auf den Schlitten und klopfen dir auf den Rücken. Sie wollen zeigen, dass sie schon beinahe Männer sind. Welcher der beiden hat mich wohl heute früh mit Schnee beworfen?
    »Ich dachte, Sie könnten heute etwas Hilfe mit dem Schlitten gebrauchen.« Du ziehst den Schlitten durch den Matsch. »Das Tauwetter macht alles noch schwieriger.«
    »Danke«, sage ich beinahe so normal wie jeder andere.
    »Warum bringe ich euch morgen nicht im Maultierkarren zur Schule? Das mit dem Schlamm kann nur schlimmer werden«, schlägst du vor.
    »Du bist eine königliche Eskorte«, ruft Darrel. »Mit dem Maultierkarren zur Schule! Hurra!«
    Du siehst mich an. Wir lächeln beide.
    Wir haben die Schule inzwischen weit hinter uns gelassen und ich fühle mich schon freier. Erst als meine Schulterschmerzen langsam verschwinden, merke ich, wie verspannt ich den ganzen Tag über gewesen war.
    »Übrigens, Lucas«, ruft Darrel, »du wirst nicht glauben, wie Mr Gillis Judith heute behandelt hat. Das war schrecklich.«
    Du hältst abrupt an. Darrel kippt nach vorne.
    »Pass auf!«, ruft er. Ich drehe mich um. Ist Darrel verletzt?
    »Geht es dir gut, Darrel?«, fragst du. Als er bejaht, willst du von mir wissen:
    »Was hat er dir angetan?«
    Ich versuche, unbeeindruckt zu wirken. Bist du wütend? Doch sicher nicht auf mich?
    Ich spreche langsam, um die Laute möglichst exakt zu bilden. »Er hat keine Rückhsicht darauf genommen, dass ich nichth viel weiß.«
    Das erträgt Darrel nicht. Er fuchtelt wild mit den Armen, damit du dich zu ihm umdrehst. »Er hat sie direkt an sein Pult gesetzt, vor die Klasse, um sie besonders gut anzuleiten. Dabei hat er ihr den ganzen Tag ins Ohr geflüstert. Aber er muss etwas Schlimmes gesagt haben, denn irgendwann stand sie auf und setzte sich zu den Mädchen aus der fünften Stufe. So böse habe ich ihn noch nie gesehen! Am Nachmittag mussten alle rezitieren und Fragen beantworten und er hat sie bestraft, weil sie nichts gesagt hat! Wörter aus der fünften Stufe musste sie auch buchstabieren.«
    Du ballst die Hände zu Fäusten. »Was hat er Schlimmes zu dir gesagt?«
    Darrel! Ich werfe meinem Bruder einen bösen Blick zu. Warum hast du mir das angetan?
    »Das kann ich nichth ssagen«, antworte ich. Die Worte klingen nicht nur schwach und erbärmlich, sie sind es.
    »Du willst es nicht sagen«, stellst du verbittert fest.
    Du ziehst den Schlitten weiter. Ich freue mich, wieder in Bewegung zu sein. Aber was habe ich falsch gemacht?
    »Zeig ihm deine Hand, Judith!«, ruft Darrel.
    Du bleibst wieder stehen. Ich weiß, dass du erst Ruhe geben wirst, wenn du meine Handfläche gesehen hast. Ich streife den Handschuh ab und zeige sie dir. Dort, wo er mich geschlagen hat, ist eine große Schwellung. Nach dem dritten Schlag hat es zu bluten begonnen.
    Vorsichtig nimmst du meine Hand und untersuchst den Striemen. »Das sollte ich beim Dorfvorsteher anzeigen.«
    »Nein«, sage ich. »Ssie intheressieren sich für mich genauso wenig wie für dhich.«
    Das war dumm und gemein. Du stellst den Schlitten vor unserem Haus ab und verabschiedest dich mit einem knappen Gruß.
    Maria hat mich das Sprechen neu gelehrt. Ich muss mich nun selbst lehren, wann es besser ist, nichts zu sagen.
    XXIX
    Nachdem Mutter zu Bett gegangen ist, setzt sich Darrel zu mir und hört mir beim Vorlesen aus der Fibel zu. Die ersten Wörter sind leicht zu lesen: Tat, Rat, Ast, rot. Auszusprechen sind sie weniger leicht. Thath. Rath. Meinem dicken Zungenstumpf gelingt der Laut eines einzelnen T nicht, weil es eine Bewegung der schmalen Zungenspitze verlangt. Was immer ich versuche – es wird immer ein Th daraus.
    »Probiere es noch einmal, Judy«, beharrt Darrel und erinnert mich damit an Maria. Er hat vergessen, dass er mir das Lesen beibringen soll und nicht die Aussprache.
    »Asth. Roth.«
    »Noch kürzer. Du hast es beinahe.»
    »Tatt. Ratt. Astt.«
    Er hat recht, es klingt schon besser. Das H verschwin-det langsam. Aber es wird nie richtig klingen. Wenn ich meine Zunge so weit vorschiebe, dass ich das verlorene Stück ausgleiche, klinge ich, als sei ich geistig eingeschränkt.
    Als ich klein war, lebte ein

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