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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Haare;
    Schrumpfend vergeht das Gehörn;
    Eng zieh’n sich die Kreise der Augen;
    Schmäler das Maul;
    Nun kehren zurück die Schultern und Hände;
    In fünf Zehen geteilt allmählich verliert sich die Klaue. «
    Gillis blickt bedeutungsvoll meine Hände an. Ich verstecke sie unter dem Tisch.
    »Und nichts bleibet an ihr von der Kuh als die blendende Weiße.«
    Nie habe ich gehört, dass ein Mann einer Frau gegenüber so dreist gesprochen hat. Ich wusste nicht, dass Worte wie Finger sein können, die sich berühren, obwohl sie es nicht sollten, und sich am Leid ihres Opfers ergötzen.
    »Aufrecht schreitet begnügt nur mit zwei Füßen die Nymphe;
    Worte getraut sie sich kaum,
    Dass nicht nach Sitte des Rindes
    Brülle der Mund,«
    Gillis sieht mich an.
    »Und versucht sich verzagt abbrechend im Reden.«
    »So«. Er ist mit sich selbst zufrieden. »Io und Sie würden einander verstehen, nicht wahr? Doch Sie könnten auch sagen – wenn Sie könnten –, dass Io Glück gehabt hat.«
    Weil ihre Stimme zurückkam.
    Welches Vergnügen Rupert Gillis auch immer daraus ziehen wollte, mich diesen Worten auszusetzen – ich werde nicht freiwillig aufgeben. Mein Gesicht ist ausdruckslos, meine Seele an einem anderen Ort. Meine Gefühle sind wie betäubt.
    Seine sind es nicht. Er verstaut das lateinische Werk und wischt das Pult ab, als sei Dreck von den Seiten auf den Tisch gefallen. Dann faltet er entspannt die Hände und beaufsichtigt die Schüler. Er sieht sehr selbstzufrieden aus.
    Io hat Glück gehabt . Ich widerstehe der Versuchung, ein paar Wörter aufzuschreiben, die eine christliche junge Dame nicht einmal kennen sollte. Sie sind ein Erbe des Colonels. Aber Sprache erscheint mir nun wie eine Form der Intimität. Wie ein Sakrament, eine Vollendung. Meine Worte sind nicht für Rupert Gillis. Statt ihrer lasse ich meinen Körper sprechen.
    Ich stehe auf, nehme Schreibtafel und Kreide und gehe zur dritten Reihe. Dort sitzen Eunices jüngere Zwillingsschwestern, zwei pummelige, blonde Mädchen um die zwölf Jahre. Auf ihrer Bank ist noch Platz. Dass ich mich zu ihnen setze, gefällt ihnen nicht, aber sie sagen nichts.
    Ich erwidere den Blick des Lehrers. Auf seinen Wangen bilden sich rote Flecken. Er durchsucht seine Jacke nach einem Taschentuch, wischt sich die Stirn und läutet die Glocke zum Mittagessen.
    XXVI
    Am Nachmittag lässt er mit eiskalter Entschlossenheit die Klasse laut buchstabieren, rechnen und Grammatik üben. Sogar mich fragt er und als ich nicht antworte, schlägt er mir mit dem Lineal auf die ausgestreckte Hand. Dreimal ruft er mich nach vorne. Ich soll »Grabstätte«, »makellos« und »Glaslava« buchstabieren. Ich sage nichts, ertrage die Schläge und gehe zu meinem Platz zurück. Die blonden Mädchen sehen mich bewundernd oder entsetzt an, genau weiß ich es nicht. Elizabeth Frye wagt nicht, mich anzusehen.
    Manche der Schüler machen Fehler und erhalten Schläge, aber nicht so heftige wie ich. Darrel beantwortet alle Fragen schnell und richtig. Trotz oder vielleicht wegen meiner schmerzenden Hand bin ich stolz auf meinen klugen Bruder.
    Als der Zorn des Lehrers verflogen ist, beendet er den Nachmittagsunterricht. Mich ignoriert er völlig. Draußen fallen große Klumpen weichen Schnees von den Zweigen. Sie sind weiß, weich und lieblich. Wie Io, als sie eine Kuh war.
    Ich stelle mir vor, wie ich mich verwandele. Wie die Hörner, die nicht da sind und die doch jeder sieht, sich in meinen Kopf zurückziehen.
    Aber ich bin keine Kuh und es gibt keine Göttin, die mir vergeben könnte, was ich nie getan habe.
    XXVII
    Plötzlich gehst du am Fenster vorbei. Ich strecke mich, um besser sehen zu können. Bist du es wirklich? Du bist es und jetzt hast du mich entdeckt. Der Lehrer erhebt sich halb von seinem Stuhl.
    Er beendet den Unterricht mit einem Glockenläuten und ist noch vor seinen Schülern an der Tür.
    »Whiting.« Seine Stimme ist herzlich und gesellig. Als wärt ihr beiden langjährige Freunde. »Schön, Sie zu sehen. Was führt Sie her?«
    »Ich möchte die Finches nach Hause begleiten.« Ich höre deine Stimme trotz des Lärms der anderen Schüler.
    Die verzögerte Antwort verrät Gillis, aber das bemerke nur ich. »Guter Mann«, sagt er. »Das ist sehr nachbarschaftlich. Judith! Darrel!« Diesmal nennt er uns nicht Master und Miss. Seine Augen glänzen. »Eure königliche Eskorte steht bereit.« Die Mädchen kichern, die Jungen spotten und der Lehrer setzt sich zufrieden ans

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