Ich bin die, die niemand sieht
ob und wie ich diese Frage beantworten soll. Ist Maria der Grund? Oder bist du es gewesen? Mit wem will ich im Frühling in der einsamen Hütte sprechen?
»Es reichthe mir«, antworte ich schließlich. »Nie verstandhen. Die Leute halthen mich für blödh. Oder tun, als sei ich nichth da.«
Darrel nickt ernst. »So behandeln sie mich auch.«
Ich ziehe den Schlitten weiter. Das stimmt nicht, du selbstsüchtiges Baby. Das kann man nicht vergleichen. Niemand hält dich für dumm. Niemand könnte dich je für dumm halten. Aber in meiner Welt ist Empathie ein seltenes Gut, also nehme ich es an.
Wir kommen an, als der Lehrer die Schüler gerade hineinbittet. Und keinen Moment früher.
Darrel scheint der Umgang mit seinen Klassenkameraden heute leichter zu fallen. Einige packen ihn unter den Achseln und tragen ihn unter Lachen und Protest in die Klasse. Kaum ist er durch die Tür, trifft mich ein großer, nasser Schneeball am Rücken. Ich drehe mich nicht um, sondern eile die Treppe hoch, ziehe den Mantel aus und setze mich neben das Lehrerpult. Dabei versuche ich, meinen Stuhl so weit wie möglich von Mr Gillis entfernt zu platzieren.
Der Lehrer bittet um Ruhe. Dann breitet er ein großes Blatt Papier vor mir aus und gibt mir einen Bleistift. »Schreiben Sie das je dreimal ab«, ordnet er an und schlägt ein Buch auf. Ich bin erleichtert. Er ist direkt, fast schon brüsk. Ein wenig Spannung fällt von mir ab. Er ist ein Lehrer und will lehren. Das ist alles. Und deshalb bin ich hier.
Sorgfältig schreibe ich die Buchstaben ab. Meine Finger stellen sich fast so ungeschickt an wie mein Mund, aber ich schreibe dennoch klein und habe so Platz, jeden Buchstaben fünfmal abzuschreiben. Ungefähr in der Mitte des Alphabets bemerke ich Fortschritte. Selbst auf meinem Anfängerniveau macht es Spaß, den glatten Stift zu halten, das Papier zu riechen und den grauen Staub wegzuwischen, der auf dem Papier zurückbleibt. Ich beneide den Lehrer. Obwohl ich noch nicht viel weiß, ist mir doch völlig klar, dass ich meine Tage lieber mit Wörtern als mit Hühnern, Müttern und Brüdern verbringen würde.
Rupert Gillis setzt sich lautlos hin und betrachtet meine Arbeit.
»Sie haben wunderschöne Hände«, sagt er so leise, dass nicht einmal der Sechsjährige in der ersten Reihe ihn hören kann.
Die Bleistiftspitze bricht mir ab. Über meine Schreibkünste hat er nichts gesagt.
»Darf ich Ihnen zeigen, wie Sie die Buchstaben neigen müssen?« Er nimmt meine Hand in seine und führt den Bleistift so, dass ein T entsteht. Sobald er innehält, ziehe ich die Hand weg.
»Jetzt wissen Sie, wie es geht«, sagt er und setzt sich wieder.
XXV
Später sollen die Schüler paarweise lesen. Ihr Gemurmel bildet einen leisen, aber konstanten Geräuschteppich, in dessen Schutz er mit mir sprechen kann. Das macht ihn mutig. Ich vermisse die Stille.
Ich schlage die Fibel auf, die er mir gestern geliehen hat, und beginne mit der zweiten Lektion. Ich bin noch nicht weit gekommen, da legt er seine langfingrige Hand auf die Seiten.
»Jemand mit Ihrer Reife findet diese Grundlagenfibel bestimmt langweilig. Hätten Sie vielleicht mehr Interesse an den Klassikern? An römischer Dichtung? Die habe ich selbst eingehend studiert. Ich werde Ihnen daraus vorlesen.«
Römische Lyrik an meinem zweiten Schultag?
»Keine Sorge«, lacht er leise. »Der Text ist nicht auf Latein.«
Er öffnet die unterste Schublade seines Pults, holt eine Kiste hervor und schließt sie mit einem Schlüssel auf, der in seiner Westentasche verborgen war. In der Kiste ist ein in Leinen gebundenes Buch. O, V, I, D , lese ich auf dem Buchdeckel.
»Das sind Geschichten von den heidnischen Göttern«, flüstert er und wirft einen kurzen Blick auf die Kleinen in der ersten Reihe. »Sie stammen aus der Zeit vor dem Christentum. Reverend Frye hält nichts davon, aber ich finde sie sehr unterhaltsam.« Er blättert im Buch.
»Ah. Das hier wird Ihnen gefallen. Es ist die Geschichte von Io. Ihr wurde von Jupiter, dem König der Götter, Gewalt angetan.«
Ich brauche einen Augenblick, um die Bedeutung von »Gewalt angetan« zu verstehen. Gillis scheint das zu belustigen.
»Um seine Tat vor Juno, seiner Frau, zu verbergen, verwandelte Jupiter Io in eine hübsche weiße Kuh. Aber Juno quälte Io, bis Jupiter seine Frau beruhigte und sie von Io abließ. Und so geht es weiter:
Als nun Juno erweicht, nimmt jene das frühe Antlitz
Wieder und wird wie zuvor.
Von dem Körper entweichen die
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